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Reine Sicht – Unreine Sicht
Verständnis im Vajrayana

Einleitung zum Thema ‚Reine Sicht‘

In zwei Gruppen, die ich kennen lernen durfte, wurde das Vajrayana-Konzept der „Reinen Sicht“ meines Erachtens nicht richtig verstanden, ja sogar gründlich missverstanden. In Folge dessen, wurde es falsch gelehrt und das falsch angewandte Verständnis führte dann zur Verdrängung oder zum Leugnen von Fehlentwicklungen beim Mitglied, in der Gruppe und auch beim Lehrer, weil man die eigenen Fehler, die Fehler in der Gruppe oder die tatsächlich vorhandenen Fehler des Lehrers ausblendete. Dies wurde dann in etwa so begründet: „Alles ist rein! Den Fehler, den Du siehst, ist nur Deine Projektion. Er ist nur die Projektion Deines unreinen Geistes.“ oder „Fehler sieht nur ein unreiner Geist, ein Buddha sieht keine Fehler.“ oder „Wenn man Wut in anderen sieht, ist das nur die Projektion der eigenen Wut.“ Es führte auch zum Übertreiben der eigenen Fehler: „ohne Buddhas sind wir wie Schmutz auf der Badewanne“, „ich bin ein Nichts, ein Garnichts“ … — auch Kritik wurde mit der Reinen Sicht unterdrückt und als Projektion des eigenen, unreinen Geistes hingestellt.

Nach Dr. Alexander Berzin ist im tibetischen Buddhismus der Gebrauch der Begriffe „rein“ und „unrein“ nicht eindeutig definiert. Die Begriffe rein und unrein werden unterschiedlich angewandt. Dr. Berzin schreibt u.a.:

„Die Texte des höchsten Tantra weisen die Schüler gewöhnlich an, ihre tantrischen Meister in einer reinen Form zu sehen. Alle in den Meistern wahrgenommenen Fehler sind Hirngespinste der eigenen Vorstellung. Ohne die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs rein zu unterscheiden, können Schüler leicht den Fehler machen zu glauben, dass die Handlungen eines Mentors auch dann noch die vollkommene Aktivität eines erleuchteten Wesens sind, wenn er Schülerinnen oder Schüler sexuell missbraucht. Schließlich ist ja jede Wahrnehmung missbräuchlichen Verhaltens eines Lehrers als Fehlverhalten eine Projektion und daher falsch.

Die beabsichtigte Bedeutung dieser Aussage ist allerdings eine ganz und gar andere. Die unreine Erscheinung des missbräuchlichen Verhaltens eines tantrischen Meisters als unabhängig existent, das ist das Hirngespinst eines verwirrten Geistes. Das missbräuchliche Verhalten ist in Abhängigkeit von vielen Ursachen und Bedingungen entstanden. Dennoch bleibt die Tatsache, dass das Verhalten missbräuchlich ist, doch wahr und unbestritten.

(in Kapitel 12, Fortgeschrittene Aspekte der Erkenntnis, dass der Tantrische Meister ein Buddha ist, aus dem Buch „Zwischen Freiheit und Unterwerfung. Chancen und Gefahren spiritueller Lehrer-Schüler Beziehungen“.)

Das Leugnen von Fehlern ist also nicht Teil der buddhistischen Praxis. Und die Behauptung, die Ethik eines Lehrers sei nicht überprüfbar und Fehler die man sehe, wären alles „nur Projektionen des eigenen Geistes“, kann eine recht undifferenzierte, oberflächliche und verdrehte Auslegung der Lehren sein. Fehler können projiziert sein, sie müssen es aber nicht. Man kann Fehler auch ohne Projektion erkennen als das was sie sind: Fehler, entstanden aus vielfältigen Ursachen und Bedingungen. Obzwar aus dem Verweilen auf Fehlern, keine Inspiration entsteht und deshalb abgeraten wird auf Fehlern zu verweilen, ist ein Gewahrsein über Fehler wichtig, um sich und andere vor den Auswirkungen solcher Fehler (Leiden), schützen zu können. (näheres dazu im Kapitel 8 im o.g. Buch, Die guten Qualitäten betrachten, ohne die Fehler zu leugnen) Das soll allerdings nicht heißen, dass man selbst nicht dafür anfällig wäre, nichtvorhandene Fehler auf den Lehrer zu projizieren. Im Einzelfall muss man sich durch genaue Prüfung und Verständnis Gewissheit verschaffen.

Würde die Reine Sicht des Vajrayana wirklich bedeuten, dass Fehler nur ein „unreiner Geist“ sieht, müsste der Buddha einen sehr unreinen Geist haben, denn er erkannte ja die Fehler Devadattas (seines eifersüchtgen Cousins) und anderer Schüler, er erkannte die Fehler zyklischer Existenz (Samsara) und Buddha beschrieb Devadatta als extrem eifersüchtig, brachte das Thema der Sanghaspaltung zur Sprache und bat seine engsten Schüler, die Ordinierten, die Devadatta irrtümlicher Weise folgten, über Devadattas falsches Verhalten aufzuklären und sie zurück zum Orden zu führen, den Devadatta gespalten hatte. Er bezeichnete zudem Devadatta als „Auswurf“ und „Speichellecker“. Was dann der Behauptung: „Fehler sieht nur ein unreiner Geist, ein Buddha sieht keine Fehler“ widerspricht. Die Behauptung ist also entweder falsch oder diese Behauptung hat eine andere Bedeutung und ist nicht wörtlich zu verstehen.

Innerhalb des Buddhismus wird zur verkehrten Ansicht auch „Ursachen leugnen“ gezählt. Je Tsongkhapa erläutert: „Ursachen leugnen ist die Ansicht, es gäbe kein rechtschaffenes oder fehlerhaftes Verhalten.“ Das heißt, nach buddhistischer Auffassung (und dem gesunden Menschenverstand), gibt es rechtschaffenes oder fehlerhaftes Verhalten. Wenn es rechtschaffenes oder fehlerhaftes Verhalten gibt, gibt es auch Unterscheidungsfähigkeit, die rechtes von unrechtem Verhalten unterscheiden kann. Zudem weist Je Tsongkhapa in seinem Kommentar zu den Fünfzig Versen der Guru Hingabe darauf hin, dass man keiner Anweisung des Lehrers folgen darf, wenn Sie den Lehren des Buddha widerspricht. Je Tsongkhapa rät Anweisungen nicht zu folgen, wenn sie „nicht sauber oder unreligiös“ sind. Er zitiert das Vinaya Sutra: „Wenn jemand etwas vorschlägt, das nicht in Einklang mit dem Dharma ist, vermeide dies.“

Zwei andere Beispiele von Missverständnissen zum Thema „Reine Sicht“

Von einem ehemaligen Mitglied einer Gruppe wurde mir berichtet, dass es viele Praktizierende in ihr gibt, die das Verständnis der tantrischen Reinen Sicht dazu verwenden – ohne eigentliche innere Wandlung – letztlich nur weiterhin den Begierden der Vergnügungen folgen zu können. Dies geschehe mit der Begründung, dass man ja jetzt die Reine Sicht habe und alles als Reine Vergnügungen sehe. Aus einer anderen buddhistischen Gruppe berichtete ein Mitglied er habe sich lange Zeit selbst geschadet und lebensunfähig gemacht indem er tantrische Visualisationen dafür nutzte der tristen Realität dieser Welt zu entfliehen – der er sich nicht stellen konnte – und er habe sich in eine reine Vorstellungswelt geflüchtet. Nachdem er sich über Jahre in ‚Reiner Sicht‘ trainierte müsse er jetzt erst einmal langsam wieder lernen, dem Leben zu begegnen und mit den Grunddingen des Lebens wieder vertraut zu werden und dabei Freude zu verspüren.

Zur Reinen Sicht erklärte der tibetische Meister Ringu Tulku Rinpoche: „‚rein‘ heißt frei von den Geistesgiften“; d.h. wenn eine Person Reine Sicht verwirklicht hat, nimmt sie die Dinge in ihrer Natur so wahr, dass keine geistigen Gifte, wie Anhaftung, Gier, Geiz, Wut usw. mehr im eigenen Geist entstehen.

So ist Reine Sicht also auf dem Verständnis von Shunyata (Leerheit, den zwei Wahrheiten bzw. dem wechselseitig bedingtem Entstehen) gegründet und bedeutet vor allem: die Dinge in ihrer endgültigen Natur, der ursprünglichen Reinheit, frei von inhärenter Existenz, wahrzunehmen und dadurch frei von den Geistesgiften zu sein.

Um das Thema näher beleuchten zu können und eigenen Fehlinterpretationen vorzubeugen oder diese zu korrigieren, möchte ich nachfolgendes Interview mit dem tibetischen Meister S.E. Dagyab Kybgön Rinpoche dem Leser zur Verfügung stellen. Das Interview führten Simone Hensel und Olaf Lismann. Es wurde in der buddhistischen Zeitschrift Chökor Nr. 41, September 2006, veröffentlicht und freundlicherweise für diese Seiten zur Verfügung gestellt.

Tenzin Peljor

Dagyab Rinpoche

»Es existiert alles, was wir erfahren, aber es existiert nicht so, wie wir es erfahren.«

Im Interview mit Dagyab Kyabgön Rinpoche geht es diesmal darum, wie unsere Handlungen Wirklichkeit erschaffen, wie wirklich unsere Wirklichkeit ist und wie jede unserer Erfahrungen auf ihre Weise Gültigkeit besitzt. Rinpoche erläutert unter anderem, wie der Tantriker die Welt sieht und welche Rolle dabei Mandalas spielen.

Die Fragen stellten SIMONE HENSEL und OLAF LISMANN.

Gibt es im Tibetischen einen Begriff der unseren Begriffen Wirklichkeit und Realität entspricht?

Für den Begriff Wirklichkeit gibt es zwei tibetische Wörter. Das eine ist dön dampa (tib.: don dam-pa), was absoluter Zustand bedeutet. Das andere ist eher umgangssprach­lich und lautet ngö nä (tib.: dngos-gnas), was eine Zusammenfassung von Realität und Wirklichkeit bedeutet. Dem Begriff Realität ent­spricht das Wort ngö nä yö kyi nä tsül (tib.:dngos-gnas-yod kyi gnas-tshul), was so viel heißt wie: Zustand, der Halt in der Realität gibt. Das Wort für Realität ist moderner und umgangssprachlich, das andere Wort dön dampa ist sowohl in der Philosophie als auch in der Alltagssprache gebräuchlich. Der Begriff Realität wird im Tibetischen heutzutage zunehmend verwendet, früher wurde nicht so viel darüber gesprochen.

Ist es gemäß dem Karma-Gesetz nicht so, dass wir mit unseren Handlungen oder Taten unsere Wirklichkeit erschaffen?

Zunächst ja, aber das sollte man etwas präzisieren. Nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung kann natürlich alles, was wir erfahren, nur gemäß dem Ursache-Wirkungs-Modell existieren. Genau genommen gibt es aber viele unterschiedliche Ursachen. Geht man nach der buddhistischen Philosophie, kann man sechs Arten von Ursachen in Betracht ziehen. Auch durch Umstände wird ein Beitrag zum Ergebnis geleistet. Zum Beispiel bewirkt eine Ursache ein bestimmtes Ergebnis. Aber durch die Umstände der momentanen Situation kommt es zu einem etwas anderen Ergebnis, oder es wird dadurch noch zusätzlich eine Wirkung eingeführt. Die Umwelt und die uns umgebenden Menschen kommen also auch noch hinzu.

Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit? Was ist Nicht-Wirklichkeit, Illusion oder Täuschung? Gibt es überhaupt etwas, das nicht wirklich ist? Selbst wenn ich phantasiere oder träume, erscheinen ja diese Phantasien, sie werden wahrgenommen, womöglich kommuniziert und entfalten damit eine Wirkung.

Zunächst: Was versteht man unter Wirklichkeit? Und wie weit erfassen wir diese Wirklichkeit? Es gibt verschiedene Gültigkeiten der Wirklichkeit. Wenn wir uns nur auf die konventionelle Realität beschränken, dann sind alle unsere momentanen Erfahrungen wirklich. Aber wenn wir die Natur der Wirklichkeit tiefer gehend untersuchen wollen, dann gibt es auf unserer konventionellen Ebene keine Wirklichkeit. Unsere Wirklichkeit ist nur auf illusorische Weise vorhanden. Auf die Frage, ob es überhaupt etwas gibt, das nicht-wirklich ist, würde ich umgekehrt fragen: Gibt es überhaupt etwas, das wirklich ist? Wenn man dann fragt, ob es überhaupt etwas gibt, das nicht-wirklich ist, dann kann man antworten: Ja, alle unsere Erfahrung und Wahrnehmung auf konventioneller Ebene ist nicht-wirklich.

Aber die Dinge existieren ja auf einer konventionellen Ebene. Könnte man sagen, das ist eine Art Wirklichkeit, aber eine täuschende oder illusionäre Wirklichkeit aber keine letztendlichen Wirklichkeit?

Richtig. Die Erscheinungen, die Wahrnehmungen der konventionellen Realität, des konventionellen Zustands, können wir aus zwei verschiedenen Blickrichtungen betrachten. Einmal als Täuschung, als Illusion. Aber dasselbe Objekt können wir auch aus einer anderen Perspektive ansehen, nämlich aus der des abhängigen Entstehens. Wenn wir es als abhängig entstehend betrachten, betrachten wir ein Objekt als vorhanden, als gültigen Zustand, ohne dass wir sein Vorhandensein zugleich vermeiden oder ablehnen müssten. Ablehnen bedeutet, alles was wir sehen, sei Illusion, darum existiert nichts. Diese Betrachtung ist zu negativ, sie ist nicht richtig. Es existiert alles, was wir erfahren, aber es existiert nicht so, wie wir es erfahren.

Gibt es eine subjektive und eine objektive Wirklichkeit?

Ja. Objektive Wirklichkeit ist die Betrachtung aus der Sicht von Leerheit. Subjektive Wirklichkeit ist das, was wir auf konventionelle Weise sehen. Alles was wir erfahren, hat auf seine Weise eine Gültigkeit. Es ist bis zu einem gewissen Grad auch eine Wirklichkeit. Denn es funktioniert. Es funktioniert zwar falsch, aber es funktioniert für uns in der konventionellen Realität. Deshalb hat es seine eigene Gültigkeit, obwohl das keine objektive Wirklichkeit ist.

Was unterscheidet unsere jeweiligen individuellen Wirklichkeiten? Was macht den Unterschied zwischen Ihrer und meiner Wirklichkeit aus? Gibt es Gemeinsamkeiten unserer Wirklichkeit?

Es gibt natürlich Gemeinsamkeiten. Es gibt aber auch unterschiedliche Betrachtungen. Zum Beispiel finden Sie bestimmte Gegenstände oder Zustände gut oder sehr angenehm. Ich finde das dagegen nicht. Dies sind dann unterschiedliche Wirklichkeiten. Und dabei existieren diese unterschiedlichen Wirklichkeiten. In Ihrer Betrachtung erscheint dieser Zustand und dieses Phänomen angenehm und schön. Ich empfinde das anders. Dennoch haben unsere beiden Betrachtungen ihre eigene Berechtigung. Die Gemeinsamkeit unserer Wirklichkeit besteht dann in der gemeinsamen Betrachtung der Eigenschaften, ob etwas schön oder schlecht ist. Wenn wir beide eine unterschiedliche Meinung haben, dies sei zum Beispiel – für mich – eine hässliche Tasse oder – für dich – eine schöne Tasse, dann ist das auch eine gemeinsame Wirklichkeit.

Was ist eine gültige Erkenntnis von Wirklichkeit?

Die gültige Erkenntnis von Wirklichkeit ist die Leerheitsbetrachtung, die Sicht der Leerheit.

Ist die bei jedem gleich?

Ja. —

Also das heißt, jeder Buddha hat die gleiche Erkenntnis der Leerheit.

Klar. Es heißt: Eine Leerheit ist die Leerheit für alle. Da gibt es keinen Unterschied bei denen, die Leerheit realisiert haben.

Wodurch unterscheidet sich die Wirklichkeit von Höllenwesen, Pretas, Menschen und Göttern derart, dass die einen die anderen noch nicht einmal wahrnehmen können?

Natürlich zum einen durch die unterschiedliche Belastung durch die verschiedenen geistigen Gifte. Zum zweiten durch die Situation, in der sie sich befinden. Drittens durch die Möglichkeiten, die sie haben. Das bedeutet, Höllenwesen haben so gut wie keine Möglichkeiten, über Erkenntnisse der Wirklichkeit zu sprechen. Bei Tieren bestehen da mehr Möglichkeiten, und am besten sind sie beim Menschen.

Was ist der grundsätzliche Unterschied zwischen der Wirklichkeit eines samsarischen Wesens und der eines Buddha?

Da besteht ein riesiger Unterschied. Buddhas und Bodhisattvas ab einer gewissen Stufe haben die Leerheit realisiert. Sie können zumindest in ihrer meditativen Sicht den absoluten Zustand der Phänomene erkennen, also die letztendliche Wirklichkeit. Samsarische Wesen erkennen niemals die absolute Wirklichkeit, solange sie die Leerheit nicht realisiert haben.

Gibt es einen Unterschied im Verständnis von Wirklichkeit in Sutra und Tantra?

Nein, da gibt es keinen Unterschied.

Sie schreiben in ihrem Mandala-Artikel dieser Chökor-Ausgabe Folgendes: »Mit der Entstehung des Mahayana veränderte sich natürlich auch das Verständnis von Leerheit und die Sichtweise der Welt im Allgemeinen. Die Leerheit als Natur von allem Existierenden als letztendliches Wesen alles Seienden führt zu einer Erweiterung des Realitätsbegriffes. Konventionelle Wirklichkeiten werden nicht mehr als einzige existierende angesehen, der Praktizierende hält nicht mehr an der bekannten Wirklichkeit allein fest.« Wie kam es zu dieser Entwicklung auch gesellschaftlich gesehen?

Durch tantrische Meditation erlangt man eine reine Sicht. Und wenn man diese Sichtweise hat, dann vollzieht sich die gesamte Entwicklung des Geistes in reiner Weise ohne Befleckung durch die Geistesgifte. Wenn der begleitende Geist der Glückseligkeit mit Leerheit verbunden ist, hat er keine Möglichkeit, in eine gewöhnliche Betrachtung hineinzukommen.

War diese Leerheits-Philosophie nur dem Klerus vorbehalten oder ist sie auch in breite Gesellschaftsschichten eingedrungen ?

Gesellschaftlich gesehen bedeutet es für mich Folgendes: Jemand ist ein ernsthaft Praktizierender, der in der Lage ist, immer die meditative Sichtweise aufrechtzuerhalten. Eine solche Person kann sich selbst auf einer Party unter die Gesellschaft mischen und gesellschaftliche Gegebenheiten erleben oder sogar genießen, ohne seine meditative Sicht zu verlieren.

Wurde die gesamte tibetische Bevölkerung von diesem Gedanken der Leerheit beeinflusst oder ist davon einfach nur etwas zu den Leuten vorgedrungen, die sich wirklich mit Meditation und Philosophie beschäftigt haben?

In der allgemeinen Bevölkerung waren die Bezeichnungen für Leerheit und sonstige Erlangungen bekannt. Allerdings nur die Bezeichnungen. Über die Bedeutungen haben breite Schichten nur sehr wenige Erklärungen bekommen oder sich damit auseinander gesetzt

Des Weiteren schreiben Sie in dem, Artikel: »Die tantrische Sicht der Welt betrachtet alles Erfahrene als leer und glückselig.« Wie bewegt sich der Tantriker in dieser Welt? Wenn ich als normaler Mensch zum Beispiel einen Berg betrachte, wie sehe ich ihn und was betrachte ich, was sieht der fortgeschrittene Tantriker?

Er sieht den Berg als Berg und dass dessen eigentlicher Zustand Leerheit ist. Diese Erkenntnis wird durch die Glückseligkeit erlangt. Das ist die tantrische Betrachtung des Berges, ganz einfach.

Also der Tantriker sieht auch einen Berg?

Er sieht diesen Berg, und er sieht den absoluten Zustand des Berges. Diese Wahrnehmung wird aus der Glückseligkeit bezogen. Und das ist die Bedeutung der Reinen Sicht. Es ist überhaupt nicht so, dass man alle sonstigen Erscheinungen wie Berg, Fluss oder Tal oder sonst etwas ignorieren müsste, wenn man sich das so genannte Mandala mit Gottheit immer vorstellt. Das geht ja auch gar nicht.

Wenn ein normaler Mensch eine Wahrnehmung hat, dann setzt das sofort eine Reihen von Konzepten in Gang, wie etwa: Das ist schön, das ist hässlich, ich will das haben, ich möchte das nicht haben. Wenn man die Reine Sicht hat, ist es dann so, dass man frei ist von diesen automatischen Vorgängen und dadurch einfach eine große Freiheit in der Wahrnehmung hat, weil man nicht mehr den Geistesgiften unterliegt und den ihnen folgenden Reaktionen?

Genau. Zum Beispiel gibt es ja unterschiedliche Sichtweisen vor und nach einer Examensprüfung. Vor der Prüfung zittert man, nimmt die Umgebung nicht so richtig wahr. Selbst wenn man sie wahrnimmt, wirkt sie sehr bedrückend. Aber nachdem man die Prüfung gut bestanden hat, ist alles erfreulich. Selbst unerfreuliche Dinge nimmt man dann noch als sehr positiv wahr. So ähnlich, glaube ich, kann man sich das vorstellen.

Die Beschreibung der tantrischen Wirklichkeit, zum Beispiel des Mandalas, ist kulturell geprägt, etwa die Beschreibung des Palastes. Sind die Beschreibungen Hilfsbilder, die individuell oder immer gleich erfahren werden? Sie schreiben nämlich in dem Mandala-Artikel: »Die tantrische Wirklichkeit ist genau wie die konventionelle Wirklichkeit eine mit vielen Wesen geteilte Wirklichkeit. Sie wird von vielen Menschen gemeinsam erfahren.«

Ja, die Beschreibungen der Mandalas sind Hilfsbilder. Ich glaube nicht, dass es von Person zu Person verschiedene Mandalas gibt, aber die Vorstellung und Erfahrung ist erstmal individuell geprägt. Diese Hilfsbilder benötigt man, solange ihre Funktion nicht erfüllt sind. Das bedeutet, sobald man die Praxis nur noch auf die Vollendungsstufe stützt, dann ist es auch nicht mehr notwendig, dieses Mandala-Hilfsbild zu betrachten. Daher ist das einfach ein vorübergehendes Mittel.

Warum praktizieren wir überhaupt diese sehr vielfältige Mandala-Darstellung?

Erstens wollen wir die Vorstellungsstufe praktizieren, damit unsere Konzentration Stabilität erlangt. Das ist eigentlich der ganze Sinn der Sache, so sehe ich das. Und wenn wir, etwas zugespitzt gesagt, unbedingt denken wollen, dann müssen wir eben einige Konzepte reinbringen. Sonst schaffen wir es nicht, unseren Geist auf einen Punkt zu konzentrieren. Bisher sind wir viele Konzepte gewohnt, daher können wir nicht einfach von einem unreinen Konzept auf ein reines Konzept umsteigen. Deshalb werden meistens aus pädagogischen Gründen sehr viele tantrische Konzepte eingebaut. Und so kommt das Mandala zustande. Das ist ein Grund.

Ein anderer Grund ist, dass alles im Mandala als Natur der geistigen Qualität der Hauptgottheit erscheint, wie zum Beispiel die vier Achtsamkeiten am Osttor und die vier reinen Entsagungen am südlichen Tor. Und diese ganzen Eigenschaften sind geistige Eigenschaften, die uns als Form präsentiert werden. Um uns an diese Reinheit zu erinnern, wurden alle diese positiven Konzepte miteinander in Verbindung gebracht. Dann existieren natürlich abweichende Darstellungen unter den Mandalas mit den entsprechenden unterschiedlichen Sadhanas. Die gibt es mehr oder weniger aus pädagogischen Gründen.

Aber Ziel ist es doch letztendlich, dass wir all unser Leben im Zustand eines Mandalas der letztendlichen Realität wahrnehmen und leben?

Richtig.

Man sagt, der Klang, den man hört, ist Mantra. Alles was man sieht ist ein Reiner Bereich. Ein Buddha hat das verwirklicht. Sieht er dann andere Menschen als die Erscheinungen, die auch im Mandala vorkommen, zum Beispiel als Tara. Oder sieht er eine gewöhnliche Frau, die ihm begegnet, oder einen Mann, aber er erkennt zugleich ihre wahre Natur als Natur zum Beispiel der Tara.

Das zweite ist korrekt. Ein Buddha sieht eine Frau nicht unbedingt als Tara, glaube ich, sondern er erkennt den absoluten Zustand dieser Person. Man sagt, in der Buddhaschaft haben alle Erscheinungen einen Geschmack im Dharmadatu. Das bedeutet, ein Buddha kennt die unterschiedlichen Personen mit ihren jeweiligen Formen, aber er nimmt diese Personen aus dem absoluten Zustand heraus wahr.

Wenn ich rituell ein Mandala in meinen Händen aufbaue und darbringe, mit welcher Wirklichkeit arbeite ich dann? Mit zwei Mandala-Wirklichkeiten – der konventionellen und absoluten – zur selben Zeit oder gar mit vier unterschiedlichen – äußere, innere, geheime und Soheits-Ebene?

Das hängt vom eigenen geistigen Vermögen ab. Wenn er dazu fähig ist, dann kann ein Praktizierender durch eine Mandala-Opfersubstanz vier Mandala-Opfergaben gleichzeitig darbringen. Wenn er nicht dazu in der Lage ist, dann sind es eben zwei oder drei oder nur eine.

Vielen Dank für das Interview.

© Choedzong e.V. – mit freundlicher Genehmigung Choedzong e.V.

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Über den Autor

Seine Eminenz Loden Sherab Dagyab Kyabgön Rinpoche lebt seit 1966 in Deutschland und zählt zu den großen Gelug Meistern der Gegenwart. Er ist der einzige Hothogthu der im Westen lebt und sowohl fest im tibetischen Buddhismus verwurzelt ist, als auch den Hintergrund westlicher Kultur und westllichen Denkens sehr gut kennt. Er gilt zudem als derjenige, der die meisten Übertragungslinien der Gelugpa-Linie, aber auch umfassende Übertragungslinien der Sakya- und Kagyü-Schulen hält. Zur Biografie.

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