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Heilsame und unheilsame Strukturen

Interview mit Tenzin Peljor

Schlange: Du musst mir vertrauen …

Tenzin Peljor ist deutscher Mönch in tibetischer Tradition. Sein Einstieg in den Buddhismus verlief jedoch nicht ohne Probleme. Von seinen Erfahrungen mit unheilsamen Strukturen in buddhistischen Gemeinschaften berichtet er uns in einem Interview mit Silke Szymura, Mitarbeiterin im Tibethaus Deutschland und Psychologiestudentin.

„Ich musste lernen loszulassen“

Silke Szymura: Tenzin, du bist 1995 auf den Buddhismus aufmerksam geworden und beschäftigst dich seitdem sehr intensiv damit. Wie kam es dazu und wie ist dein Einstieg damals verlaufen?

Tenzin Peljor: Ich las damals ein Buch über „Die vier edlen Wahrheiten“ vom Deutschen Taschenbuch Verlag. Darin wurden unter anderem die Regeln für buddhistische Mönche aufgelistet. In der Theravada-Tradition sind das 227. An dieser Stelle im Buch, als ich über die Gelübde und ihre Bedeutung nachdachte, wurde mir klar: ‚Das ist das, was ich schon immer werden wollte: Mönch!’

Mit der Frage, wie und wo ich buddhistischer Mönch werden kann, habe ich mich dann auf den Weg der Suche gemacht. Auf dieser Suche war ich natürlich auf das angewiesen, was mir begegnete. Begegnet sind mir in einem Buchladen in Berlin Prenzlauer Berg ein Meditations-Handbuch, das behauptete den Weg zur Erleuchtung in 21 Meditationen aufzuzeigen, und ein Poster, das Werbung für einen buddhistischen Vortrag machte. Das Buch habe ich gekauft und Ort und Zeit für den Vortrag notiert und so bin ich dann im Dezember 1995 zu meinem ersten buddhistischen Vortrag gegangen.

Was ich damals nicht wusste war, dass es sich bei der Gruppe um eine klassische Sekte handelte. Das Einlassen auf diese Gruppe war für mich ein langer und harter Umweg. Insgesamt hat er sechseinhalb Jahre gedauert plus vier Jahre Nachbearbeitung, um das, was da passiert ist, zu verstehen, aufzuarbeiten und daraus zu lernen. Man könnte durchaus auch sagen, um nicht daran zu zerbrechen.

Ich bin forsch, gutgläubig, naiv und mit so einer Art positivem Vorschussvertrauen in die nächstbeste buddhistische Gruppe gestolpert, die sehr gut Werbung gemacht hat. Ich hatte zu dem Zeitpunkt gar kein Wissen über den Buddhismus. Auch kein Wissen über sogenannte Sekten oder Sektenstrukturen. In diesem Sinne war ich ungeschützt. Was ich allerdings hatte, war eine Intuition. Die hat mir signalisiert: Hier stimmt was nicht. Ich war dann mit einem Freund in der Sektenberatung in Berlin und habe gefragt, ob gegen die Gruppe etwas vorliegt. Gegen die Gruppe selbst lag nichts vor, man gab mir aber eine Liste von Merkmalen, die beschreiben, wann man aufpassen muss. Von den neun Merkmalen, die sie mir genannt haben, trafen acht auf die Gruppe zu. Und es hieß, bei einem Merkmal muss man schon aufpassen. Die Trefferquote war also recht hoch.

Checkliste Sekten

„5. Die Gruppe hat einen Meister, ein Medium, einen Führer oder Guru, der allein im Besitz der ganzen Wahrheit ist.“
© Checkliste für unbekannte Gruppen, Senat Berlin Mai 2013

Ich habe eben gesagt, ich war forsch. Das war ich auch wirklich. Ich bin nämlich dann mit der Information zu der buddhistischen Lehrerin gegangen, habe sie damit konfrontiert und gesagt: „Ich war bei der Sektenberatung. Das ist ja hier voll die Sekte!“

S: Davon war sie sicherlich weniger begeistert.

T: Nun ja, diese Begriffe sind immer schwierig und gerade der Begriff „Sekte“ ist umstritten, aber ich würde mal platt sagen: Sie war eine gute Sektenführerin. Ein „guter Sektenführer“ weiß, wie man mit so etwas umgeht und geschickt die Ansichten anderer manipuliert und „auf Linie bringt“. Die Reaktion von ihr war an der Stelle: „Buddhismus ist eine Sekte? Buddhismus ist eine Weltreligion! Und was glaubst du eigentlich weltlichen Menschen, die dir irgendwas über den Buddhismus sagen? Ich dachte, du wolltest dich spirituell bilden? Und dann hörst du irgendwelchen Pfarrern zu, die nur neidisch sind auf den Erfolg des Buddhismus?!“

Sie hat also ganz geschickt Zweifel gesät in Bezug auf die Information und die wurden dann noch am selben Abend in einem öffentlichen Vortrag weiterbearbeitet. Dort wurde gesagt, dass wir auf unsere Wahrnehmungen nicht vertrauen können, dass die nicht verlässlich sind, dass wir häufig Fehler projizieren, wo keine sind. Es wurde ganz geschickt im Bereich der Halbwahrheiten manipuliert und das durchschaut man normalerweise als Neueinsteiger und Anfänger nicht.

Ich habe mich daraufhin auf diesen Prozess eingelassen. Letztlich gehören da ja immer zwei Seiten dazu. Ich habe quasi zugelassen, dass ich manipuliert wurde, dass meine Intuition und mein Selbstvertrauen untergraben wurden und dass ich sehr, sehr stark abhängig wurde und mich da ganz tief verstrickt habe. Ich habe nicht nur mich verstrickt, sondern auch andere. Durch meine Tätigkeiten innerhalb der Gruppe und eine angeborene sozial-emotionale Begabung, habe ich andere Menschen in die Gruppe geführt und sozusagen mit abhängig gemacht. Am Ende war ich Teil des Systems und habe leider auch andere Menschen da hinein geführt.

S: Dennoch bist du auch wieder aus dem System herausgekommen. Wie hast du das geschafft?

T: Das war ebenso ein langer Prozess. Um das zu erklären, muss ich deutlich machen, dass ich Teil einer Sekte war, die ihrerseits Teil einer größeren buddhistischen Sekte war. Ich nehme jetzt den Begriff „Sekte“ einfach für Strukturen, die stark unheilsam sind und stark abhängig machen. Der Begriff ist umstritten, aber als Arbeitsbegriff ist er glaube ich in Ordnung.

Ich war also in einer Gruppe, die eine Struktur hatte, die man klassisch als Sektenstruktur bezeichnet. Und innerhalb dieser Gruppe gab es eine Untergruppe, die in sich selbst noch mehr „versektet“ war als die Hauptgruppe.

Diese Untergruppe war ein bisschen zu selbstständig für den obersten Sektenführer, ein bekannter buddhistischer Lehrer in England. Er versuchte dann die Kontrolle zurück zu gewinnen, indem er diese Lehrerin, von der ich gesprochen habe, aus seiner Organisation herauswarf. Dafür ist er mit seiner Entourage nach Berlin gereist und hat – ich nenne das so –  eine „spirituelle Hinrichtung“ durchgeführt. Also ein Tribunal, das so unter aller Würde war, dass es mir und vielen anderen regelrecht die Sprache verschlagen hat. Mir ist in dem Moment klargeworden, dass diese Person, die sich buddhistischer Meister nennt und als „vollkommen verwirklichter Meditationsmeister und international anerkannter Lehrer des Buddhismus“ beworben wird, von dem man in der Gruppe als Buddha spricht, dass dieser schlicht nicht das praktiziert, was er lehrt. Das, was er da getan hat, war im totalen Gegensatz zu allem, was ich bis dahin von Buddhismus verstanden hatte. Da war für mich klar: Dem kann ich nicht mehr folgen. Allerdings war ich gleichzeitig so stark manipuliert, dass ich Angst hatte, wenn ich ihn verlasse, dann komme ich in die Hölle. Das ist ein weiteres Merkmal von Sekten, dass sie Schuldgefühle und Ängste manipulieren, die dadurch zunehmen und dazu führen, dass man immer unfreier wird.

Im ersten Schritt habe ich mich also von der größeren (Ober-)Sekte trotz meiner Ängste getrennt. Ich war allerdings immer noch in der Untergruppe, die ebenfalls eine Sekte war. Das war so ein bisschen wie einen Albtraum zu haben und dann wacht man auf und denkt er ist vorbei, aber der Albtraum geht eigentlich weiter und du hast nur geträumt aufgewacht zu sein. Aus der ersten Gruppe bin ich heraus gekommen, weil der sogenannte „Meister“ sein wahres Gesicht gezeigt hat: Größenwahn, Machttrip, keinerlei Mitgefühl und vor allem kein Verständnis wechselseitig bedingten Entstehens, der grundsätzlichen Lehre des Buddha. Andere haben sich diesen Machttrip und dieses unmenschliche und unbuddhistische Verhalten des „Meisters“ schön geredet, aber das konnte ich nicht.

Aus der zweiten Gruppe bin ich heraus gekommen, weil ich es über die Jahre geschafft habe, mir gegen die Strömung innerhalb der Gruppe Freiräume zu schaffen. Ich habe mich immer mehr dem Studium und der Meditation gewidmet und wenig dem Gruppendruck gebeugt. Das ist relativ schwer in sogenannten Sekten, die das Merkmal haben, dass man immer beschäftigt ist, dass man immer arbeitet, und gar nicht mehr zum Nachdenken kommt. Da ich in gewisser Weise die rechte oder linke Hand der Lehrerin wurde, musste sie mir den Freiraum zugestehen, weil sie wusste, sie wird mich sonst verlieren. Durch meine Studien und Meditationen habe ich graduell mehr Wissen und Erfahrung gewonnen und habe dadurch deutlicher gesehen, was die Lehrerin für Fehler macht. Der Auslöser war letztendlich, dass ich gemerkt habe, dass sie gar keinen Plan hat, dass sie die Leute in die Irre leitet, dass sie mich in die Irre leitet. Ich habe das dann sogar zusammen mit einem anderen Mönch direkt bei ihr angesprochen. Das war ziemlich hart für sie, weil sie diesen Größenwahn hatte und es für sie eigentlich unmöglich war, dass ein Schüler sie auf Fehler hinweist. Aber weil sie uns nicht verlieren wollte, hat sie eingelenkt. Irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich gemerkt habe: Sie kann sich nicht verändern. Ihre destruktiven Muster – Größenwahn, Stolz, Sucht nach Anerkennung – sind viel zu tief und wenn ich bei ihr bleibe, gehe ich selbst mit ihr und der Gruppe zusammen unter. Es blieb nur eines: Das umherirrende und früher oder später sinkende Schiff zu verlassen. Und das war wiederum ein relativ langer Prozess.

Wie gesagt, insgesamt war ich sechseinhalb Jahre in den Gruppen. Der Ablöseprozess hatte ungefähr eineinhalb Jahre Vorlauf. Dabei habe ich auch Unterstützung von Freunden bekommen, die schon draußen waren. Und dann brauchte ich noch einmal vier Jahre für die Aufarbeitung, bis ich halbwegs wieder klar im Kopf war.

Kloster Ganden Tashi Choeling, Päwesin: Losang Jamyang, Losang Kyabchok, Losang Rabten, Losang Tashi (Tenzin Peljor), Losang Dawa

Pilgerreise im März 2002 nach Nepal/Indien – ca. 3 Monate bevor Tenzin Peljor die Gruppe verließ. V.l.n.r.: Losang Jamyang, Losang Kyabchok, Losang Rabten, Losang Tashi (Tenzin Peljor), Losang Dawa

S: Trotz dieser schlechten Erfahrung hast du dich nicht komplett vom Buddhismus abgewendet. Wieso nicht?

T: Nein, das habe ich nicht. Ich glaube, entscheidend ist, sich über die eigene Motivation im Klaren zu sein. Das ist übrigens auch etwas, das in diesem Zusammenhang empfohlen wird. Es gibt ein Arbeitsblatt der Deutschen Buddhistischen Union (DBU), das nennt sich „Heilsame und unheilsame Strukturen in Gruppen“. Dieses Arbeitsblatt ist das Ergebnis der Arbeit der DBU mit dem Thema Sekten. Als eine Auseinandersetzung innerhalb der DBU mit dem Thema Sekten gefordert wurde, wurden ein Freund und ich eingeladen und haben an der Arbeitsgruppe „AG-Zukunft Thema ‚Sekten‘“ teilgenommen. In dem Arbeitsblatt wird folgendes vorgeschlagen: Ein wichtiger Punkt, um sich zu schützen, ist die eigene Motivation zu erkennen: Warum gehe ich zum Buddhismus, was suche ich da? Was will ich da? Was erwarte ich von der Gruppe?

Ich glaube, was mir eigentlich geholfen hat, ist die Tatsache, dass ich eine ganz klare Motivation hatte: Ich möchte Mönch werden, bestimmte Qualitäten in mir entwickeln und bestimmte Fehler in mir hinter mir lassen. Als ich gemerkt habe, dass mir die Gruppe weder einen korrekten Rahmen für das Mönchsein, noch für mich wichtige Dinge wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit oder Redlichkeit bieten kann, war diese Gruppe – allen voran die Lehrerin – nicht mehr tragbar für mich. Es hat mir richtige geistige Schmerzen bereitet, die Lügen und Verdrehungen der Lehrerin zu erkennen.

Durch diese Desillusionierung und die tiefen geistigen Schmerzen, die ich erlebte, entwickelte ich allmählich eine immer stärker werdende Motivation, die Lehrerin und die Gruppe zu verlassen. Was mich gerettet hat, war mein eigenes Wertesystem und meine Motivation.

Wenn jemand in eine Gruppe geht, um sich gut zu fühlen und weniger Probleme zu haben, als Familienersatz, als Feld intensiven Erlebens – das und noch viel mehr können Sekten alles bieten. In diesen Fällen ist dann aber relativ wenig Basis da, auf deren Grundlage es einen Zusammenstoß der Realitäten geben kann. Was bei mir kollidierte und zu Reibung führte, war der Ist-Zustand der Gruppe mit meiner eigentlichen Motivation. Dieser Zusammenstoß bewirkte, dass ich allmählich die vielen manipulierten Ängste und Schuldgefühle nicht mehr beachtete und den Mut entwickelte, alles zu hinterfragen. Dieses Hinterfragen führte zu mehr Klarheit, die Klarheit führte zu einem deutlicheren Sehen und das deutlichere Sehen führte zur Gewissheit, dass ich die Lehrerin und die Gruppe – mit denen ich ja auch gute und intensive Erfahrungen gemacht habe – verlassen muss, weil sie keinen Rahmen für meine geistige Entwicklung bieten, ja dieser völlig im Wege stehen!

S: Was würdest du jemandem raten, der in einer Gemeinschaft ist, bei der er nicht ganz sicher ist, ob es sich um eine sogenannte Sekte handelt oder nicht? Kannst du ein paar konkrete Tipps geben, wie man das erkennen kann?

T: Mein Verständnis ist so: Hat man sich bereits blindlings oder von ganzem Herzen auf eine Gruppe eingelassen, die eine klassische Sektenstruktur hat, dann ist es relativ schwer, diese Gruppe und deren Strukturen mit der nötigen Distanz zu reflektieren und wieder herauszukommen. Solche Gruppen haben ein sehr gutes und effektives sogenanntes Indoktrinationssystem, im Grunde eine Art der Selbstmanipulation, bei der Wahrnehmungen, Vorstellungen, Emotionen und das Ego geschickt hin zu einer gewünschten Wirklichkeit manipuliert werden. Das ist nicht einmal böswillig. Ist man Teil dieses Denk- und Manipulationssystems ist es meines Erachtens eigentlich schon zu spät. Der Geist ist in einer Scheinwirklichkeit gefangen, die er falscher Weise für die Wirklichkeit hält.

Deshalb ist meiner Meinung nach der wichtigste Schutz, gerade am Anfang, zu möglichst vielen Lehrern und Gruppen zu gehen, unterschiedliche Gruppen und Lehrer kennenzulernen und verschiedene Erfahrungen zu sammeln ohne sich festzulegen. Dann hat man einen breiteren Erfahrungs-Hintergrund und kann leichter unterscheiden: Hier ist es eher enger, hier ist geistige Weite und Toleranz vorhanden, hier habe ich das Gefühl, ich werde hineingezogen und hier wird mir eher Freiheit gelassen. Wenn man keinen Vergleich hat, ist es relativ schwer, unheilsame oder weniger förderliche Strukturen bzw. Lehrer und deren Gruppen zu erkennen. Ist man Teil einer Sekte, wird der Kontakt zu Außenstehenden als etwas Unerwünschtes, ja Gefährliches, angesehen, und es ist dann so gut wie unmöglich sich solch einen breiten Erfahrungshintergrund zu erarbeiten und auf der Basis dessen dann die Sekte als Sekte zu erkennen.

Ist man also bereits Teil einer Gruppe ohne diese Vorerfahrungen und ohne umfassendes Grundwissen des Buddhismus, kann es bereits zu spät für ein Hinterfragen sein, weil für dieses Hinterfragen schlicht die Basis fehlt! Sollte man allerdings bereits Teil einer Gruppe sein und man möchte diese hinterfragen, ist die Anleitung der DBU, die ich schon erwähnt habe, eine gute Basis. Auch kann man sich direkt an die DBU wenden. Die DBU hat eine Geschäftsstelle und dort kann man anfragen, ob sie Ansprechpartner haben, die einem helfen, die eigene Situation zu reflektieren und besser zu verstehen.

Es kam auch schon vor, dass Leute sich an mich gewendet haben, aber im Gespräch klar wurde, dass die Person projizierte und die Gruppe selbst keine Sektenstruktur hatte bzw. der Lehrer sich ethisch korrekt verhalten hat. In jedem Fall kann externe Hilfe gut sein, dumm nur dass ein Merkmal einer „guten Sekte“ ist, dass das Externe als bedrohlich wahrgenommen wird und Heil nur in der Gruppe und ihrem Lehrer gefunden werden kann…

S: Es lässt sich also nicht so pauschal sagen, was in so einer Situation hilft.

T: Leider nicht, aber ich könnte sagen, welche Qualitäten helfen: Ehrlichkeit und die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflektion. D.h. ehrlich sich selbst gegenüber zu sein: Ja, ich bin unsicher! Ja, ich habe Zweifel! Eine sogenannte Sekte hat natürlich Methoden, solche gesunden Zweifel und ein offen-ehrliches Wahrnehmen zu unterdrücken, sich die Dinge schön zu reden. Das fühlt sich aber nur kurzzeitig gut an. Langfristig kann das nicht wirklich funktionieren, denn die Wirklichkeitsverzerrung stimmt nicht mit der Realität überein. Deshalb kommen die Zweifel früher oder später wieder hoch, weil sie nicht wirklich erlöst sind, weil sie keine Basis in der Realität haben. Die Zweifel kommen zurück egal wie viel Energie man aufwendet sie zu unterdrücken, wegzureden oder diese auszublenden. Und wenn man in solch einer Situation genügend Ehrlichkeit hat und bei sich bleibt, diese Zweifel, sich selbst und die Gruppe ehrlich wahrnimmt und reflektiert, hat man eine relativ gute Basis zu erkennen was es zu erkennen gilt. Das dumme ist aber, dass in solchen Gruppen genau dieses ehrlich-kritische und reflektierte Denken nicht gefördert und sehr geschickt unterwandert und ausgeschaltet wird.

Es ist also sehr schwer aus einer Sekte herauszukommen, ist man erst einmal in einer solchen drin. Deshalb ist wie gesagt der größte Schutz, am Anfang viele Gruppen kennenzulernen und über einen längeren Zeitraum buddhistisches Grundwissen zu erwerben ohne sich festzulegen oder an Lehrer und Gruppen zu klammern. Sekten haben ein großes Geschick Menschen anzuziehen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zusätzlich haben sie meist einen äußeren und einen inneren Kreis. Dadurch entsteht eine zusätzliche Sogkraft, die die Sehnsucht beflügeln kann, zum inneren Kreis der Gruppe zu gehören. Das Ganze ist ein eher schweres Thema und es gibt m.E. kein Patentrezept.

S: Es geht also vor allem darum, viel auszuprobieren und zu hinterfragen – sich selbst und auch die Gruppe oder Struktur?

T: Eigenes Ausprobieren und eigenes Hinterfragen, genau. Und vielleicht auch noch als Schutz: Sich nicht festzulegen. Also ich würde fast sagen, mindestens die ersten zwei Jahre ist einfach „Trial and Error“. Man probiert alles aus, man sammelt Erfahrungen, man spricht mit Leuten, man hört sich um. Dadurch hat man eigentlich ein ganz gutes Informationsnetz und ein gutes Gefühl, man kann feiner unterschieden.

Ich würde sagen, die ersten zwei Jahre ganz offen sein und sich am besten noch gar nicht festlegen.

Das Trickreiche von Sekten ist, dass sie das Selbstwertgefühl manipulieren. Man fühlt sich dort sicher, geborgen, man fühlt sich wohl. Dort werden emotionale Bedürfnisse bedient, die Menschen in unserer Gesellschaft haben. Wenn man aber offen ist, kriegt man auch mit: Aha, dort ist das nicht so, da fühle ich mich nicht so wohl, aber hier ist vielleicht mehr Freiheit, und nicht so eine Sogkraft. Man kriegt ein breiteres Spektrum. Und dieses breitere Spektrum, dieses Wissen, was man über die zwei Jahre offenes Prüfen aufbaut, ist meines Erachtens der beste Schutz. Durch die Gespräche, die man in den zwei Jahren hat, kriegt man in der Regel auch mit, bei welcher Gruppe man aufpassen sollte. Das wären wahrscheinlich Methoden, um sich zu schützen.

S: War dieses Ausprobieren und diese Offenheit dann etwas, was du nachgeholt hast in den vier Jahren der Aufarbeitung? Wie ging es bei dir persönlich weiter, nachdem du beide Gruppen verlassen hattest?

T: Also nachdem ich diese sechseinhalb Jahre durch hatte, war ich im wahrsten Sinne des Wortes verbrannt. Es war eigentlich nicht möglich, noch in irgendjemanden Vertrauen zu entwickeln, mich irgendjemandem zu öffnen. Ich konnte nicht mal meditieren. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes „geisteskrank“. Da war ganz viel „Wirrnis“ und Durcheinander. Ich habe dann auch erst einmal nicht gewusst, wie es weitergehen soll. Ich hatte aber Freunde, die mir geholfen haben und Menschen, die Mitgefühl mit mir hatten.

Dazu möchte ich eine Sache anmerken: Als ich damals angefangen habe, über meine Erfahrungen zu sprechen, hat den meisten Buddhisten das Einfühlungsvermögen und das Mitgefühl gefehlt. Ich wurde wie ein Ufo, jemand, der ein bisschen merkwürdig ist, betrachtet. Ich denke, die Leute konnten damit nicht umgehen.

Es gab nur vier Personen, die wirklich Mitgefühl hatten, die mich ernstgenommen und sich in meine Lage versetzt haben. Von denen habe ich Hilfe bekommen, das waren meine ersten Ansprechpartner. Dadurch, dass ich ernst genommen wurde, dass mir Mitgefühl gegenüber entwickelt und zugehört wurde, habe ich mich langsam selbst reflektiert. So konnte ich ein bisschen aus dem Dschungel herauskommen.

Das war ein Punkt. Und dann bin ich zu verschiedenen Zentren gegangen, habe verschiedene Sachen kennengelernt. Ich traf einen Lehrer, bei dem ich gemerkt habe: Der manipuliert mich nicht, der macht meine eigenen „Egospiele“ nicht mit. Ich war so verunsichert, dass ich immer gelächelt habe. Wenn man jemanden anlächelt, lächelt die andere Person in der Regel zurück. Das meine ich mit „Egospiel“: Ich fühle mich unsicher, du lächelst, jetzt fühle ich mich wieder sicher. Der Lehrer hat nur einmal gelächelt und dann nicht mehr. Dadurch habe ich gemerkt, wie verunsichert ich bin und für mich hieß das: Ich erkenne bei ihm mein eigenes Ego. Ich glaube, dieser Lehrer wird mich niemals manipulieren und niemals in eine falsche Richtung führen. Ich habe erkannt, dass ich mich bei ihm nicht verbrenne und habe mich ein bisschen geöffnet. Dieser Lehrer hat mir den folgenden Ratschlag gegeben: Geh zu allen großen Lehrern, die es gibt, und höre von ihnen Dharma-Erklärungen. Egal, wo das ist und wer das ist. Das war für mich ein guter Ratschlag. Wenn man Buddhismus praktiziert, geht es nicht darum, Mitglied einer Gruppe zu werden, sondern Dharma-Informationen aufzunehmen, die Lehren zu prüfen und zu lernen, an sich zu arbeiten.

Das Wichtigste sind also erst einmal authentische Lehrer und Informationsaufnahme. Dadurch war ich relativ unabhängig von Gruppen. Diese qualifizierten Lehrer und die Art, wie sie Informationen gegeben haben, das war ein wichtiger Heilaspekt und auch eine Sache, bei der ich gemerkt habe: Ich brauche eigentlich die Gruppen erst einmal weniger, ich brauche zunächst die Heilung und die kommt von authentischen Lehrern oder integren und mitfühlenden Menschen und weniger von Gruppen. Westliche Gruppen haben zudem ganz eigene und mitunter sehr heftige Probleme, die auf unerkannten individuellen als auch kulturellen und gesellschaftlichen Schattenseiten basieren.

Ich konnte Heilung also quasi nur durch Leute erfahren, die selbst zu einem gewissen Grad heil waren. Ich habe die Besten der Besten aufgesucht und das hat mir gut getan. Dieser Prozess war nach vier Jahren harter innerer Arbeit abgeschlossen. Wichtig in diesem Prozess der Heilung waren auch meine Freunde, meine eigenen Reflektionen sowie der Austausch mit anderen ehemaligen Sektenmitgliedern. Für mehrere Jahre lebte ich in einer WG ehemaliger Sektenmitglieder, das war enorm hilfreich, weil wir uns emotional, spirituell und finanziell unterstützt und vor allem auf einer tieferen Ebene verstanden haben.

S: Du hast ja schon gesagt, dass es von Anfang an dein Wunsch war, Mönch zu werden. Das hat schlussendlich auch geklappt, wie kam es dazu? 

T: Eigentlich bin ich in der Sekte schon Mönch geworden. Als ich 1995 auf die Gruppe gestoßen bin, wollte ich gleich Mönch werden. Daraufhin hat die Lehrerin gesagt, ich hätte eine ganz „unreine Motivation“. Die Art wie sie mit mir redete bewirkte, dass ich dachte,  irgendwas stimmt mit mir nicht, ich bin so etwas wie die Ursünde, irgendetwas ist grundsätzlich „unrein“ in mir. Sie hat dann aber vorgeschlagen, mich trotzdem dem Meister vorzustellen. Schließlich bin ich 1998 innerhalb der Gruppe ordiniert worden, habe aber später festgestellt, dass ich nicht wirklich Mönch gemäß der Lehren des Buddha war.

Da meine anfängliche Motivation ja war, Mönch zu werden, war es naheliegend, dass ich mir nach Verlassen der Sekte wünschte, eine qualifizierte Ordination bei einem voll qualifizierten Abt und einer gesunden monastischen Gemeinschaft zu nehmen. Ringu Tulku Rinpoche, der bereits erwähnte Lehrer, der meine Ego-Spiele nicht mitmachte, sagte zu mir: „Nimm die volle Ordination vom Dalai Lama.“ So habe ich dann 2006 vom Dalai Lama und seiner Klostergemeinschaft in Dharamsala die volle Ordination bekommen.

Ordination mit S.H. Dalai Lama und Sangha
Vollordination am 12. März 2006 in Dharamsala.

In einer gewissen Weise war das auch der Abschluss meiner Sekten-Vergangenheit. Mit der Vollordination habe ich auch einen neuen Namen bekommen und für mich begann ab diesem Zeitpunkt ein neuer spiritueller Weg. Ich muss das noch einmal betonen: Im wahrsten Sinne des Wortes „neu“, es war wirklich ein „Reboot“, ein Neustart. Das ganze alte System war ein Fehlsystem. Das musste ich lernen loszulassen, aufzuarbeiten. Dieser ganze Prozess hat mich viel Mut, Kraft und Arbeit gekostet. Nach sechseinhalb Jahren völliger Widmung für das, was mir als Buddhismus verkauft wurde und ich für „Buddhismus“ hielt, musste ich von vorne beginnen. Ich würde sagen, mein richtiges spirituelles Leben hat 2006 angefangen. Allerdings sehe ich die Erfahrungen, die ich vorher gemacht habe, als wichtigen Teil meines spirituellen Weges. Es ist nicht so, dass das umsonst war. Aber es war nicht so hilfreich, anfänglich. Jetzt, im Nachhinein, ist es ok.

S: Wir haben jetzt sehr viel über negative Strukturen geredet und auch wie man das erkennen kann und wie du da selbst herausgekommen bist. Was sind aus deiner Sicht wichtige Merkmale an positiven, guten Gemeinschaften?

T: Es ist relativ schwer, das zu sagen. Ich denke, gute Merkmale sind eine prinzipielle Offenheit für andere Meinungen und andere Ansichten und die Bereitschaft, von anderen Ansichten zu lernen anstatt sie als pauschal schlecht oder falsch abzustempeln. Sekten im Gegensatz dazu haben immer die Tendenz, nur eine Wahrheit zuzulassen. Pluralität zuzulassen ist schlicht nicht im Sinne des Dogmatismus einer Sekte.

Offenheit für verschiedene Meinungen, Kritik und Standpunkte und die Tatsache, dass diese Kritik auch angenommen wird und man sich dafür bedankt, sind meiner Meinung nach gute Merkmale. Die Basis hier wäre das, was Professor Metzinger „spirituelle Redlichkeit“ nennt: Ein Interesse an einem tieferen Verständnis und die Bereitschaft, eigene Fehler zu erkennen, zuzugeben, über eigene Fehler zu lachen und dankbar zu sein, wenn jemand eigene Fehler aufzeigt. Das ist es, was in Sekten schlicht unwillkommen ist. Es gibt eine „Pseudo-Ehrlichkeit“ und eine „Pseudo-Offenheit“ für andere Meinungen, aber nur um dann das, was gesagt wird, wieder so hinzubiegen, dass es zur Doktrin der Gruppe passt.

Weitere positive Merkmale sind Gelassenheit, Ehrlichkeit, Humor, dass man lachen kann, dass vor allem der Lehrer selbst über sich und man über den Lehrer lachen kann. Außerdem aufrichtiges Interesse am Wohlergehen des anderen. Das würde bedeuten, dass man merkt, wenn in der Gemeinschaft eine Person außerordentlich hart arbeitet, dabei aber sehr unglücklich ist. Dann sollte man auf die Person zugehen und fragen: „Sag mal, kann ich dir was abnehmen oder sollten wir etwas ändern in der Gruppe, dass du nicht so hart arbeiten musst?“

Dazu muss ich aber sagen, dass Desinteresse am wirklichen Wohlergehen des anderen auch in sogenannten eher gesunden Gruppen oder Nicht-Sekten vorkommt. Das wirkliche Interesse wäre aber ein gutes Merkmal. Ich habe das vor allem in Theravada-Gemeinschaften beobachtet und das hat mich sehr beeindruckt. Dort, wo auch wirklich Spiritualität, Achtsamkeit und authentisches Mitgefühl vorhanden sind, merkt man eher, wenn es einer Person nicht gut geht. Dort hat man auch eher die Zeit, auf die Person zuzugehen. Man nimmt sie ernst. Wo das aber fehlt, würde ich nicht sagen, das ist gleich eine Sekte. Ich sage nur: Wo das vorhanden ist, das ist ein gutes Merkmal.

Außerdem muss man auch noch unterscheiden zwischen Neueinsteigern und denen, die schon länger dabei sind. Bei den Sekten ist es nämlich so, dass Neueinsteigern viel Zeit und viel Aufmerksamkeit gegeben wird. Das gleiche gilt aber nicht für die, die lange dabei sind. Man sollte daher auch ein bisschen gucken, wie diejenigen, die länger dabei sind, miteinander umgehen. Freundlich, respektvoll, rücksichtsvoll? Wird ihnen Raum gelassen, werden ihnen Lasten abgenommen oder werden sie mit Aufgaben zugeschüttet?


Tenzin Peljor

Bhikshu Tenzin Peljor ist deutscher Mönch in tibetischer Tradition. Er studiert und praktiziert Buddhismus seit 1995 und wurde von S.H. dem Dalai Lama 2006 zum Mönch ordiniert. Seit mehr als 10 Jahren leitet er Meditationskurse und unterrichtet in vielen Städten Deutschlands, u.a. im Tibethaus Deutschland. Von 2008 bis 2013 studierte er am Istituto Lama Tzong Khapa in Italien das sechsjährige Masters-Programm buddhistischer Studien.

Von Ringu Tulku Rinpoche wurde er 2007 zum Residenzmönch für Bodhicharya Deutschland in Berlin berufen. Siehe auch: www.tenzinpeljor.de

Neben Studium und Lehrtätigkeit ist er im steten Kontakt mit Tibetexperten und hat eine großartige, kritische Sammlung von erhellenden Informationen rund um Tibet und den Buddhismus zusammengestellt: http://info-buddhismus.de.

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Dieses Inerview erschien in Chökor Tibethaus Journal, Ausgabe 59, 07/2015, Seiten 61–65.
© Tibethaus Deutschland. Mit freundlicher Genehmigung von Elke Hessel.

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