Vier Dinge
- Phänomen Sekten
- Sich dem (tibetischen) Buddhismus nähern
- Innere Voraussetzungen einer Person, die Buddhas Lehren empfangen möchte
- Auf Distanz zu einem falschen Lehrer gehen
Phänomen ›Sekten‹
Versuch einer Skizze, um das Phänomen einzukreisen und dadurch besser zu verstehen:
Erster Ansatz:
Leid aus den drei Geistesgiften
Im Buddhismus versucht man das Leid anhand des Verständnisses, dass die Wurzel des Übels von den drei Giften, Anhaftung (Begierde), Wut (Feindseligkeit) und Nicht-Wissen (Ignoranz) ausgeht, zu analysieren. Diese geistigen Gifte entspringen wiederum einer falschen Vorstellung von einem konkreten, realen, unteilbaren, ewigen, unabhängigen Selbst und aus dieser Vorstellung und dem Greifen nach dem Selbst ist eine besondere Wertschätzung dieses Selbst entstanden, die Selbstbezogenheit oder auch in gesteigerter Form als Selbstsucht (Narzissmus) bezeichnet. Ignoranz im buddhistischen Begriffssystem bedingt zudem das Greifen nach einer Eigenexistenz im Wesen aller anderen Phänomene und sieht nicht ihre wechselseitige Bedingtheit, ihre Zusammengesetztheit usw.
Auf der Basis von Selbstbezogenheit, nimmt man alles was mit der eigenen Person zu tun hat für wichtiger: Das eigene Auto, die eigene Familie, die eigenen Kinder und im religiösen Kontext dann eben auch die eigene Gruppe, die eigene Ansicht, die eigene Religion, die eigene Gefühle und Erfahrungen, die eigene Tradition, den eigenen Lehrer usw.; so entsteht Parteilichkeit, die Vereinnahmung für eine Seite, eine Sicht. Durch die Parteilichkeit im eigenen Geist wird der Geist verengt und an eine Seite gebunden. Gruppen mit ungesunden Strukturen verstärken diesen Prozess der (einseitigen) Bindung. Durch Parteilichkeit und Vereinnahmung für eine Seite hat der Geist keine Fähigkeit mehr zum offenen und ausgewogenen Prüfen und ist anfällig, sich in unheilsame Strukturen zu verstricken und diesen destruktiven Zustand zu übersehen oder zu leugnen. Der Geist hält fest, woran er gebunden ist – Anhaftung an den Lehrer, die religiöse Tradition, die Art der Sprache und den Gepflogenheiten in der Gruppe, den Stil der Dharma-Präsentation usw. – und ist wegen der begehrlichen Anhaftung an diese, abgeneigt (feindselig) gegenüber allem was damit nicht identisch ist; oder fühlt sich überlegen (Stolz) gegenüber allem anderen. Eine unsichere Person, die eher geringes Selbstwertgefühl besitzt, bietet dieser Zustand vorübergehend Halt, gibt Gefühle von Geborgenheit, Familie, Zugehörigkeit; löst aber weder die Ursachen mangelnden Selbstvertrauens, noch führt sie der mit Geistesgiften verunreinigte Zustand sozialer Bindung in einen befreiten geistigen Zustand. Wenn man es genau betrachtet, kann man das alles auch in einem Autoclub, einem Sportverein oder dem Kult von Markenprodukten finden: identitätsstiftende Rahmenbedingungen, die vorübergehend Gefühle von Verlorenheit oder Einsamkeit überwinden helfen und Gefühle von Zugehörigkeit, Geborgenheit, Gemeinsamkeit vermitteln. Dieser Prozess ist also zuallererst westlicher Alltag, westliche Kultur und damit auch ›normal‹. Allerdings geht es im Buddhismus nicht um das Schaffen von Identitäten für das ICH, sondern das Ablegen aller falschen Vorstellungen vom ICH und um das Erkennen des illusionären Charakters aller Identitäten, auf die sich die irrtümliche Ich-Vorstellung stützt. Solch ein Vorgehen bedarf eines gesunden Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls, es bedarf des Mutes und fundiertem Verständnis.
Wird in der Gruppe wirklich das Dharma, zur Überwindung der illusionären Vorstellung eines Selbst und zur Überwindung der Selbstsucht gelehrt, angewandt und von authentischen Dharma-Lehrern vorgelebt, werden sich solche normalen, destruktiven Tendenzen im Geist allmählich und fast natürlich auflösen. Trifft man aber auf falsche Lehrer, werden diese Fesseln zunehmen oder wo sie noch nicht entstanden sind, werden sie entstehen.
Ein Zeichen für ungesunde Entwicklungen ist eine zunehmende Selbstbezogenheit, die vielleicht nicht mehr die eigene Person als so wichtig ansieht, aber alles das, womit sich das ICH identifiziert: den Lehrer, die religiöse Tradition, die Gruppe, die Bücher des Gurus, seine Worte, seine Lehrpräsentation bis dahin, dass man an all dem als 100%ige und alleinige Wahrheit (»vollkommen authentisch«) klebt, alles wörtlich und als bare Münze nimmt und sich in dieser Gruppenrealität ständig selbst spiegelt und Bestätigung in ihr und durch sie findet. Die identitätsstiftenden Merkmale der Gruppe werden dann mit positiv wirkenden Adjektiven ausgeschmückt, erhöht und überhöht. Positiv besetzte Schlüsselwörter und Euphemismen prägen die Sprache in der Gruppe und die Lehrpräsentation. Man hat jetzt eine »ganz besondere« Form des Buddhismus, »besonders rein«, »besonders kraftvoll«, »besonders schnell«, »ganz besonders schnell«, »ideal für unsere Zeit« usw. – und – woanders gibt es das so nicht mehr, wird direkt behauptet oder indirekt suggeriert. Das erzeugt Exklusivität. Durch eine überzogene positive Sicht, eine Sprache, die mit Euphemismen, Übertreibungen und Aufblähungen angereichert ist, können wiederum Gefühle von etwas Heiligem, Besonderen, Außergewöhnlichen, Einzigartigen geweckt werden, die einen dann erschauern, erstaunen lassen oder in Ehrfurcht versetzen können. Der Gedanke »… und ich gehöre dazu!« macht einen glückselig. Das mögen Erfahrungen sein, die man so vorher noch nicht hatte, was wiederum die Überzeugung nähren kann: auf das Außergewöhnliche, niemals-zuvor-Dagewesene getroffen zu sein und die Bindung (Anhaftung an die Gruppe, den Führer usw.) bestätigt und vertieft. Letztlich – schaut man nach innen – kann man mitunter erkennen, dass sich nicht unbedingt die Tugend von Bescheidenheit entfaltet hat, sondern eher das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, etwas Besseres als andere, der Rest der Gesellschaft. Das kompensiert dann die Gefühle von geringem Selbstwert, Minderwertigkeit oder verdrängt sie, löst sie aber nicht wirklich auf. Zudem werden Sachverhalte durch eine mit Euphemismen angereicherten Sprache in der Gruppe verdreht, verzerrt, überbewertet oder positiv übertrieben und berechtigte Zweifel untergraben. Ist man erst einmal dem Gefühl verfallen, etwas ganz Heiligem beizuwohnen, ist man auch kaum noch geneigt sich diese Gefühle durch Zweifel an der Sache wieder nehmen zu lassen …
Solch ein äußerer Rahmen und solche inneren Einstellungen und Erwartungen, wie hier beschrieben, kombiniert mit Hoffnung und (blindem, d.h. ungeprüftem) Glauben bieten optimale Bedingungen, zu außergewöhnlichen Erfahrungen zu kommen, da man sie einfach erwartet, dafür offen ist und der eigene Geist ja auch voll verborgener Schätze und Fähigkeiten ist, die hier zutage treten können. Diese Erfahrungen wiederum bestätigen dann die Authentizität der Gruppe, ihres Führers und die Richtigkeit der eigenen Entscheidung, ihnen zu folgen und verhindern mögliche gesunde Zweifel.
In ungesunden Strukturen wandelt sich die Selbstbezogenheit des Einzelnen (oder dessen Narzissmus) in eine Gruppen-Selbstbezogenheit (bzw. einen Gruppen-Narzissmus). Es geht dann einfach fast nur noch alles um die Gruppe, ihre Lehre, ihre Präsentation – die etwas ganz Besonderes ist – was der Lehrer machte, sagte, schrieb, was für Wunderkräfte und Hellsichten er hat usw. – kurz um alles mit der Gruppe verbundene – und das Besondere, was diese alles verkörpert. Dabei tritt im Gegenzug das Individuelle in den Hintergrund, ja ist ersetzbar, austauschbar und nicht so wichtig.
Ein möglicher Gruppenanarzissmus kann auch einfach die weitergegebene (vorgelebte) narzisstische Persönlichkeitsstörung des Lehrers/Leiters sein, die sich auf die Mitglieder übertragen hat. Das muss aber nicht sein, selbstzentrierte Verhaltensweisen können auch in starkem Umfang von den verantwortlichen westlichen Schülern ausgehen, die die Kontrolle im Zentrum völlig an sich gerissen haben.
Junge Menschen haben natürlicher Weise eine eher etwas instabilere Ich-Identität und eine daraus resultierende Orientierungslosigkeit. Wer jetzt für sie Identitäten schafft (im westlichen materiellen Kontext mit Marken-Turnschuhen, Marken-Handys usw.) die einen bestimmten Stil, Style, Lebensgefühl etc. vermitteln, gewinnt ihre Herzen. Wenn buddhistische Gruppen sich mit solchen identitätsstiftenden Werbematerialien, gefühlvollen oder Lifestyle-vermittelnden Internetpräsentationen präsentieren, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie von solchen (professionell gemachten) Präsentationen angezogen werden. Der Mahayana Buddhismus appelliert zudem an ihr altruistisches Ideal, Gutes zu tun, die Welt zu verbessern und schlägt sie leicht in ihren Bann. Ihre jugendliche Kraft kann dann für das missionarische Verbreiten und Aufbauen von Zentren der eigenen Gruppe genutzt werden. Kommen Jugendliche in solche Gruppen, finden sie Gleichaltrige, ihnen wird zudem sofort ein Gefühl von Geborgenheit, Gleichheit oder Aufmerksamkeit vermittelt, unmittelbare Zuwendung und Liebe, totale Annahme, wie man eben ist und es sicher selten – wenn überhaupt – in diesem Leben je erfahren hat. (Es kann aber auch so sein, dass der innere Zirkel einer Gruppe so harmonisch wirkt, dass eine tiefe Sehnsucht, dazu zu gehören in ihnen entsteht, ohne dass sie direkt umworben werden.) In jedem Fall sind dies bereits Dynamiken, die eine Art Sog entstehen lassen, Mitglied zu sein, dabei zu sein, dazu zu gehören, sich dem »Kult« anzuschließen.
In christlichen Gruppen mit sektenhaftem Hintergrund werden Jugendliche mitunter für selbstlose Auslandseinsätze in so genannten ›Dritte-Welt-Ländern‹ geworben, um sich um Straßenkinder und andere Menschen in Not, die von der gesellschaftlichen Zuwendung ausgeschlossen sind, zu kümmern. Auch hier wird an das altruistische Potential der Jugendlichen appelliert, um sie letztlich für das Wachstum einer bestimmten religösen Gruppe zu missbrauchen. (Das soll natürlich nicht die aufopferungsvollen Einsätze selbstloser Menschen herabsetzen oder verunglimpfen, sondern nur aufzeigen, dass der Missbrauch von Altruismus für egoistische Zwecke einer Gruppe oder Religion ein Aspekt des Lebens ist: »Der Egoismus spricht alle Sprachen und spielt alle Rollen, sogar die der Selbstlosigkeit.« François de La Rochefoucauld (17. Jahrhundert))
Im Buddhismus geht es aber nicht um Zugehörigkeiten, sondern das Dharma und die Anwendung desselben auf den eigenen Geist. Eine Gruppe, Traditionen und ihre Lehrer und Lehrpräsentationen bieten einen gesunden und notwendigen Rahmen (Struktur), diese innere Arbeit an sich zu ermöglichen. Den Weg geht letztlich jeder allein und eigenverantwortlich. Buddha, Dharma und Sangha, Lehrer und Traditionen bieten Mittel, sind die notwendigen Quellen und inspirierende Stütze an sich zu arbeiten: »Wenn Ihnen also wirklich das Wohl der Wesen am Herzen liegt, arbeiten Sie an erster Stelle an Ihrer eigenen Vervollkommnung.« S.H. Dilgo Khyentse Rinpoche
Abhängigkeit differenzieren
Die Abhängigkeit des buddhistischen Weges von den Drei Quellen der Zuflucht (Buddha, Dharma und Sangha), von authentischen Lehrern, weisen Äbten, der ordinierten Sangha wird nicht erklärt, um ungesunde Abhängigkeiten zu schaffen, sondern sich entstprechend heilsam ihnen gegenüber zu verhalten und dadurch positive Geisteseindrücke zu sammeln, die einen selbst auf dem Weg unterstützen.
Diese Quellen des buddhistischen Weges wären nutzlos, wenn nicht in jedem selbst das Potential für völliges Erwachen – die eigene innere Reinheit und Makellosigkeit (Buddhanatur) – vorhanden wäre, die mit den Methoden des Buddhadharma und den Segen der Lamas und Drei Juwelen geweckt und vollends entfaltet werden kann.
So sind übertriebener Selbstkult oder Gruppenkult, genauso wie Selbstverleugnung, Selbstausbeutung und Geringschätzung Extreme, die nicht im Einklang mit der Realität, der Weisheit des wechselseitig bedingten Entstehens, der Kernlehre des Buddha, sind.
Leseempfehlungen
- Übersichtsartikel (PDF; 200 kB) von Prof. Dr. med. Volker Faust
- Kriterien von ICD-10 zu Persönlichkeitsstörungen - zusammengestellt von Dr. Hans Morschitzky
- Lernsystem Persönlichkeitsstörungen - Uni Gießen
- Selbstverliebt - aber richtig: Paradoxe Ratschläge für das Leben mit Narzißten - Prof. Dr. Rainer Sachse
Zweiter Ansatz:
Ich - Verstrickungen
›Heute ist ein besonderer Tag, wirklich ein ganz besonderer Tag.‹
Was ist besonders? Es ist einfach ein Tag, aber man macht einen
besonderen Tag aus dem Tag. Warum? Das ICH kreiert diese Vorstellung.
Der Tag ist besonders, also erlebe ich etwas besonderes, ich bin in
einer besonderen Situation. Das streichelt das ICH. Wie gut für
mich. Das fühlt sich gut an.
Das ICH greift nach dem Besonderen es möchte besonders sein und glaubt fest an die konkrete wirkliche Existenz dieses Besonderen. Da ist ein grundsätzliches Greifen nach einem konkreten Ding, dem wirklich aus sich heraus existierenden Besonderen.
Das ICH übersieht dabei, dass alles Besondere aus einem anderen Blickwinkel anders und weniger wichtig aussieht, da es ein von vielen Faktoren abhängiges Phänomen ist; veränderlich und auch von den eigenen Standpunkten, Zielen und Wünschen abhängig. Nix Solides, Fixes, Festes also. Aber man glaubt fest an die wirkliche Existenz des Besonderen (oder der ›Wahrheit‹ / ›Tradition‹ / Religion usw.) (=Nicht-Wissen).
Dieses Greifen nach wirklicher, unabhängiger Existenz und diese Vorstellung und übertriebene Liebe zum Selbst, dies kombiniert, macht anfällig für Sekten-Phänomene¹:
Man kommt jetzt zu einer Gruppe, wo es noch den reinen Buddhismus gibt, eine ganz besonders reine Tradition. Auch der/die MeisterIn ist etwas ganz Besonderes und man ist unter besonders reinen Praktizierenden. Hier wird auch ein ganz besonderer und schneller, ein besonders schneller Weg des Dharma gelehrt, der schneller ist, als andere. Ja, das ist doch genau das, was das ICH braucht: etwas Besonderes.
Also dann greift's halt danach und glaubt fest, dass diese Sache aus sich heraus gut, heilsam, rein usw. ist und hält diese Sache fest und identifiziert sich damit. Wenn das ICH jetzt damit verbunden ist, hat es scheinbar auch dieses Attribute: gut, rein, heilsam und besonders. Ich gehöre dazu.
Hat die Person, die sich dem Buddhismus zuwendet, wenig Selbstbewusstsein (was für viele Westler leider zutrifft), erfährt sie hier plötzlich Halt und Aufwertung. Dieser Halt und die Aufwertung für die eigene Person, führt zu einer neuen Selbstsicherheit, die man zuvor nicht hatte und die alle Mitglieder der Gruppe auch ausstrahlen. Diese neue Selbstsicherheit führt zu Selbstvertrauen, das einhergeht mit innerer Stärke. Das alles fühlt ich gut und heilsam an. Unterschwellig, unbewusst und unbemerkt schleicht sich dabei eine subtile Gewissheit ein, besser zu sein als andere. (Ein subtiler Stolz ist das, der sich da im Geist einnistet und unbemerkt zu wuchern beginnt. Dieser subtile Stolz, dass subtile Gefühl besser zu sein, besser zu wissen, ist der wirkliche Dämon, der Blindmacher und Dieb, der die eigene innere Entwicklung blockiert und spirituelle Entwicklung vorgaukelt. Es kann Jahre dauern, bis man diesen entdeckt.)
Doch zurück zum Besonderen und dem ICH:
Das (schwache) ICH identifiziert sich nun (als neue
Identitätsbasis) mit all diesem Besonderen und besonders Reinen
(=Anhaftung) und vermutet unterschwellig woanders nur Unbesonderes und
nicht so Reines oder Unreines (=Feindseligkeit). Irgendwo da
draußen lauert jetzt der unreine Buddhismus, der unreine Dharma,
die unreinen Praktizierenden …
Die geistigen Gifte haben sich nun auf geistige Vorstellungen von Traditionen und andere religiöse Systeme und ihrer Vertreter übertragen. Sektierertum ist im eigenen Geist entstanden. (Bevor man überhaupt religiös war, war man wesentlich toleranter, als jetzt, wo man Buddhist ist.)
Das ICH sitzt in der Falle.
Selbstkritik oder Kritik an der Gruppe/Tradition ist nicht mehr möglich, ja wird als negativ gesehen.
Das ICH identifiziert sich jetzt völlig mit diesen Dingen und
diese sind die wesentliche Stütze für das ICH und es gilt sie
zu verteidigen, sonst bricht ja alles zusammen.
Wenn das jetzt wirklich alles so besonders in meiner Tradition ist, was
könnte es geben, was noch »mehr besonders« wäre? Das gibt es
nicht! Nicht möglich. Also bestätigt sich das ICH – wenn es
nicht noch schnell die Seiten wechselt und zum Mehr-Besonderen wechselt
– ab jetzt, wie besonders alles ist, freut sich und wehrt alle anderen
Dinge ab. Es ist eingekapselt. Die Gruppe bestätigt sich die
Besonderheiten und freut sich. Man gehört dazu, solange man diese
Sicht teilt, wer sie nicht mehr hat, ist eine Gefahr für die
Gruppe, verliert schnell die »guten Freunde«, diese fühlen sich
nämlich durch unsere möglichen Zweifel oder Infragestellungen
angegriffen, spüren, wie ihnen der Boden unter den Füssen
wegrutschen könnte und schneiden uns oder wollen uns »retten«,
d.h. uns wieder die Sicht der Besonderheit der Gruppe, des Lehrers, der
Tradition usw. »schenken«. Denn wer geht, der greift unterschwellig
alle an, die der besonderen Gruppe folgen, es gibt nichts und es kann
ja nichts geben was »besser« wäre.
Weil man danach gegriffen hat, sich fest hält: Das ist das Beste,
es gibt nichts Besseres, ich gehöre dazu, ich bin gerettet. Man
hat sein ICH mit Gruppe, Lehrer, Mitgliedern, den Besonderheiten dieses
Konglomerats verschmolzen, wenn man sich jetzt davon lösen
würde, zieht's dem ICH den Boden unter den Füßen
weg … das ICH hat Ängste!
Unterschwellige Ängste bewirken dann, dass wir permanent die Gruppe verteidigen, andere Gruppen ablehnen und man sich vor echtem Austausch fürchtet usw. …
Um diesen Leidenskreislauf zu vermeiden wäre als gesunde Basis für den anstrebenden oder ausübenden Buddhisten wichtig:
-
Ein gesundes Selbstbewusstsein (bzw. Selbstvertrauen/Selbstwertgefühl) zu entwickeln,
- das auf der Erkenntnis und Erfahrung der eigenen, innewohnenden guten Potentiale und ursprünglichen Reinheit (Buddha-Natur) gründet
- sich gegebenenfalls in therapeutische Behandlung zu begeben
- die eigenen Fehler erkennen, liebvoll anzunehmen und geduldig, beharrlich und entspannt an ihnen zu arbeiten (für Westler – speziell Deutsche – heißt das Motto eher: »Relax!«; »Take it easy!«)
- die eigenen guten Qualitäten und die anderer
erkennen, schätzen, sich an ihnen zu erfreuen und fördern
(ohne falschen Stolz zu entwickeln, besser oder höher bzw.
schlechter oder minderer als andere zu sein. Das entspricht
der »Weisheit der Gleichheit«, die Buddha Ratnasambhava
verkörpert)
-
Ein tiefes Verständnis dafür zu entwickeln, dass die eigenen Makel flüchtig sind und aufzuhören, sich mit ihnen zu identifizieren und sich zwanghaft für schlecht, hoffnungslos und einen unverbesserlichen Sünder zu halten, der von einer externen Quelle gerettet werden muss (also Selbstverantwortung zu übernehmen, soweit dies möglich ist)
-
Die drei Merkmale in sich zu entfalten, die Seine Heiligkeit der Dalai Lama als wesentliche innere Leitfäden für Buddhisten (im Westen) empfiehlt:
- Offenheit
- Unparteilichkeit und
- immer wieder sich und die Dinge, die einem begegnen, kritisch zu prüfen.
-
Als Gegenmittel zum Greifen im religiösen Kontext (Fanatismus), empfiehlt sich
- das Anwenden des Verständnisses der Leerheit, das den Dingen eine eigenständige, ihnen innewohnende Selbst-Existenz fehlt,
- das Entwickeln eines Verständisses von wechselseitig bedingtem Entstehen und
- das Einüben unparteilichen Mitgefühls, auf der Basis unterscheidenden Gewahrseins, das die Individualität und die verschiedenartigen Veranlagungen und Bedürfnisse der Wesen erkennt – dies entspricht der »Weisheit der Individualität«, die Buddha Amithaba verkörpert.
Man kann sich zudem selbst oder Dharmafreunde kritisch befragen: Was ist eigentlich eine »Tradition«, »Religion«, »Linie«? Was heißt sie ist »rein«, »besonders«, »schnell«, »makellos«, darf »nicht vermischt« werden? Existieren solche Merkmale vom Betrachter und seinen Fähigkeiten, unabhängig im Objekt? (Wenn ja, wie kommen sie da rein? Waren diese Merkmale von Anfang an da? Existieren diese besonderen Merkmale außerhalb dieses Objektes (in anderen Traditionen) nicht und woher weiß ich das so genau?)
Buddhistische Traditionen sind zudem Summen von Erkenntnissen und sie sind Summen (Bündel) von verschiedenen Linien, die auf Buddha zurück gehen (bzw. zurück gehen sollten). Sie sind übertragen worden von verschiedenen Lamas (auch denen anderer Linien, oder keiner spezifischen »Linie«, wie z.B. die Panditas Indiens, die nie einer tibetischen Linie angehörten und ohne die kein tibetischer Buddhismus existieren würde), sie fußen auf den vielfältigen Erfahrungen und Revidierungen ihrer großem Meister, Anwender und Übermittler, sie sind keine statischen, fixen, vollkommen fehlerfreien und endgültig greifbaren Größen.
Den Begriff ›Sekte‹ verwenden
Häufig wird der Begriff der ›Sekte‹ - je nach Hintergrund und Motivation des Nutzers - einer Summe von Merkmalen zugeschrieben und benennt eine in hohem Maß unheilsame Gruppenstruktur, die den Einzelnen, der sich auf diese unheilsame Gruppenstruktur einlässt, in eine zuvor nicht erahnte extreme emotionale, finanzielle und ideologische Abhängigkeit führt und die individuelle Freiheit und Entscheidungsfähigkeit – meist durch das Erzeugen von Angst- und Schuldgefühlen – massiv untergräbt.
Hier eine Liste von ›Sekten‹-Definitionen verschiedener Anbieter:
- Checkliste (PDF) - Berliner Senat
- Psychologische Kriterien zur Beurteilung von destruktiven Kulten - Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (PDF-Faltblatt des BDP)
- Checkliste Bayerisches Landesjugendamt
- Checkliste Kult& co Tirol
- Sektenbegriff nach kirchlicher Sicht (relinfo.ch)
- Kultbegriff nach Singer
- Kultbegriff nach Lifton
- Kultbegriff nach Welwood
- Sektenbegriff nach F.J. Litsch
- Sektenbegriff in der Online-Enzyklopädie Wikipedia
- Kriterien für unheilsame Entwicklungen in buddhistischen Gruppen · speziell Mahayana/Vajrayana · Ergebnis eigener Erfahrung, Beobachtung und der Diskussion mit anderen
Weiteres
- Das Ich als Ware - Franz Johannes Litsch
»Wenn die Aussage eines Lehrers in sich widersprüchlich ist, kann man ihn nicht als verlässlichen Lehrer annehmen.« (Dharmakirti)
Sich dem Buddhismus nähern
Wie kann man sich jetzt aber dem (tibetischen) Buddhismus nähern?
Ich denke so, wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama immer wieder in öffentlichen Vorträgen empfiehlt: Erst einmal Informationen zum Buddhismus aufnehmen, zum Beispiel indem man Bücher zum Buddhismus liest. Man sollte zudem vorsichtig sein, dass man nicht Hals über Kopf die Religion wechselt. Den Lehrenden sollte man nicht vorschnell als seinen Lehrer betrachten, sondern mehr als einen geistigen Freund und sich viel Zeit zum Prüfen nehmen.
Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagte u.a.
- »Lassen Sie Vorsicht walten. Vermeiden Sie es, um jeden Preis, Buddhist zu werden, ohne darüber wirklich nachgedacht zu haben, ohne über ein Grundwissen zu verfügen, nur weil Sie Lust dazu verspüren, denn dann werden Sie früher oder später entdecken müssen, dass Ihnen gewisse Praktiken gar nicht entsprechen oder Sie Ihnen unmöglich erscheinen.« (in »Ratschläge des Herzens«, Zürich 2002, S. 195)
- »Man sollte die religiöse Gemeinschaft, der man entstammt, weiterhin achten und sich nicht bewusst von ihr absondern. (…) Einen Übertritt zum Buddhismus sollte man sich gründlich überlegen. Ein sponatner Wechsel der Religion erweist sich fast immer als schwierig und kann auch zu schweren seelischen Störungen führen. Wer sich zum Buddhismus bekehrt, der sollte sich bescheiden und nicht mit religiösem Übereifer des Konvertiten alles von Grund auf anders machen wollen. So will es eine alte tibetische Weisheit, die uns rät: ›Ändere Dein Bewusstsein, aber lasse dein Äußeres, so wie es ist.‹« (in »Das kleine Buch vom rechten Leben«, Freiburg, 1998, S. 127)
- »Es ist wichtig, dass man, wenn man eine Beziehung zu einem spirituellen Lehrer aufbaut, diesen nicht vorschnell als seinen spirituellen Lehrer betrachtet, da dies eine sehr kraftgeladenen Beziehung ist. Je nachdem, wie lange es erforderlich ist – zwei, fünf, zehn Jahre oder noch länger – betrachtet man diesen Menschen lediglich als einen spirituellen Freund. Während dieser Zeit beobachte man aufmerksam sein Benehmen, sein Verhalten, seine Lehrmethoden, bis man sich seiner Redlichkeit vollkommen sicher ist. Aber es ist sehr wichtig, dass man von Anfang an vernünftig und entschlossen vorgeht … In den Sutras, Buddhas eigenen Anweisungen, heißt es sehr deutlich, dass man dem Meister in jenen Bereichen, in denen sein Verhalten nützlich ist, folgen soll, während man ihm in denen, die es nicht sind, nicht folgen soll. Steht das Verhalten des Meisters also im Widerspruch zum Nützlichen und den buddhistischen Lehren, dann folgt man seinen Fußspuren nicht. Man sagt nicht einfach: ›Dieses Benehmen ist gut, weil es das Benehmen des Gurus ist.‹ Das wird nie gemacht. Es steht in den Sutras ausdrücklich, dass man, wenn das Verhalten des Gurus unschicklich ist, es als solchs erkennen und nicht nachahmen sollte. Es heißt unmissverständlich, dass das Abträgliche als etwas Abträgliches erkannt werden sollte … In einem Text des Höchsten Yoga Tantra wird ausdrücklich erwähnt, dass kein Rat eines Lehrers, der nicht zur eigenen buddhistischen Lebensweise, zur eigenen Praxis passt, befolgt werden soll.« (Quelle: Öffentliche Unterweisungen des Dalai Lama)
- »Probiert den Guru zwölf Jahre aus, bevor Ihr Euer ganzes Leben für ihn oder sie aufgebt. Zwölf Jahre, nicht nur eine Stunde.« (zitiert nach Finger, J., »Buddhismus, Faszination und Grenzen der Spiritualität«, Schweiz 2001, S.31)
Für jemanden, der sich für ein tieferes Verständnis des inneren Heilsweges auf einen Lehrer stützen möchte, gibt der Dalai Lama Hinweise, was dieser für Qualitäten besitzen sollte. (Es gibt ausführliche Texte im Buddhismus über die Qualitäten, die ein Lehrer besitzen muss.)
Geshe Tenpa Choepel empfahl: erst einmal alle Dharmaerklärungen
als Information aufnehmen und den Lehrer einfach als Freund im
Buddhismus sehen. Erst wenn man genügend Informationen aufgenommen
hat, kann man auch prüfen und auch erst dann kann man den Lehrer
prüfen. Dazu bedarf es Wissens.
Zudem betonte er, dass es sehr wichtig sei niemals zuzulassen, dass eine andere Person Macht über einen ausüben kann.
Das ICH muß also nicht gleich nach einem Lama rennen, dem größten, besten, berühmtesten Lehrer; noch muss es sich einer anderen Person unterwerfen. Man bleibt entspannt und nimmt konzentriert die Informationen auf, die er oder sie gibt. Sicher ist es gut von Lehrern Erklärungen zu empfangen, die einen tadellosen Leumund haben und die von anderen großen Lehrern geschätzt und respektiert werden. Zusätzlich sollte der Lehrer auch einen selbst ansprechen, inspirieren – ohne dass das Ego eine Aufblähung erfährt (das kann sich auch inspirierend anfühlen, wenn man ein schwaches Selbstwertgefühl hat, das ist aber nicht die Inspiration des Dharma!).
Man braucht also zu Beginn keinen ›Wurzel-Lama‹!
Man braucht einfach Dharma-Information und seriöse buddhistische
Freunde, die einem Raum geben und lassen.
Jetzt sagte aber Je Tsongkhapa, wird der buddhistische Gelug-Kenner sagen:
»Die Wurzel des Pfades ist Vertrauen in einen Lehrer.«
Alex Berzin fragt dazu: Was ist zuerst da: die Wurzel, oder der Same der Pflanze?
Wer kommt mit Wurzeln in ein Dharma Zentrum?
Die meisten kommen sicher mit inneren Samen. Der wächst auch erst einmal ohne ›Wurzel-Lama‹ und ›Guru-Yoga‹, wie sonst könnten Theravada Praktizierende und Pratekya Buddhas Erleuchtung erlangen?
Wurzel-Lama und Guru-Yoga ist etwas für erfahrene Praktizierende. (Aber das
ICH will ja immer das Besondere und hält sich für besonders
erfahren (?) und stürzt sich freudig darauf … und verbrennt sich
höchst wahrscheinlich.)
Das Anvertrauen kommt auf einer viel späteren Stufe, wenn man wirklich weiß, was man will, wohin man will und man das umfangreiche Wissen besitzt, um wirklich gut prüfen zu können. Im ursprünglichen Lamrim (dem »Stufenweg« des tibetischen Buddhismus) von Atisha (Kadampas), aber auch bei Gampopa (Kagyupa) und in der Nyingma Tradition, kommt das Anvertrauen nicht am Anfang. Je Tsongkhapa hat das Vertrauen in den Lehrer an den Anfang gestellt und die Reihenfolge für studierte und erfahrene Mönche und Nonnen des 14. Jahrhundert geändert, nicht für Westler des 21. Jahrhundert mit einer vollständig verschiedenen Kultur und Sozialisation. Zudem wurden in Tibet Lamrim-Erklärungen traditionell verwendet, um erfahrene Praktizierende auf tantrische Initiationen vorzubereiten und dem Studium des Lamrim gingen umfangreiche philosophische Studien voraus, d.h. er ist also nicht als eine Anfänger-Erklärung gedacht. Die Punkte zu Wiedergeburt, Karma, oder dass alle Lebewesen die eigene Mutter waren, sind nur mit den Mitteln der Erkenntnistheorie (Logik) nachvollziehbar, die zuvor im Wissensgebiet der Pramana vermittelt werden.
Die Kagyupas, d.h. der Lam Rim von Gampopa, beginnen erst einmal mit dem Aufzeigen der eigene inneren Reinheit, der Buddha-Natur. Das halte ich für viel geeigneter, das stärkt den positiven Bezug zur eigenen Person, gibt Mut und Selbstvertrauen, hilft einen gesunden, friedlichen Bezug zur eigenen Person zu finden und auf der Basis entwickelt man dies auch für andere.
Alexander Berzin schreibt:
»In Fällen, in denen die Schüler Westler sind und die Lehrer Tibeter wird eine Problemquelle von kulturellen Missverständnissen gebildet, die zusammen mit der unrealistischen Erwartung auftreten, die andere Seite werde sich entsprechend der eigenen kulturellen Normen verhalten. Weiter Quellen der Verwirrung ergeben sich, wenn man die Darstellungen der Lehrer-Schüler-Beziehung in den Standarttexten aus ihrem ursprünglichen Kontext herausnimmt, sie wörtlich interpretiert und die Bedeutung der Fachbegriffe falsch versteht, was oft von fehlleitenden Übersetzungen verursacht wird.
Die Texte des Lam-rim (Stufenpfad) beispielsweise präsentieren die Beziehung als „Wurzel des Pfades“ und besprechen sie als ihr erstes Hauptthema. Die Bedeutung der Metapher ist allerdings, dass ein Baum seine Nahrung von seinen Wurzeln erhält, nicht, dass er aus einer Wurzel entspringt. Ein Baum entspring aus einem Samen und Tsongkhapa nannte die Beziehung nicht „den Samen des Pfades“. Schließlich wurde die ursprüngliche Zuhörerschaft, an die sich das Lam-rim richtete, nicht von Anfängern gebildet. Sie bestand aus Mönchen und Nonnen, die zusammengekommen waren, um eine tantrische Übertragung zu empfangen und die zur Vorbereitung eine Wiederholung der Sutralehren brauchten. Für solche Personen, die sich durch vorangehendes Studieren und Praktizieren bereits im buddhistischen Pfad engagiert haben, ist ein gesundes Verhältnis mit einem spirituellen Meister die Wurzel, aus der sie die Inspiration gewinnen, die den vollständigen Pfad zur Erleuchtung stützt. Die Absicht war nie, dass neue Schüler in westlichen Dharmazentren ihre Dharmapraxis damit beginnen sollten, dass sie ihre spirituellen Lehrer als Buddhas sehen.« (aus Beziehung mit einem spirituellen Lehrer in zwei Leben)
Abschließend folgende Hinweise:
Ich finde wichtig, die eigene Motivation für die Zuwendung zum
Buddhismus oder zu Zentren, die eigenen Ziele und Sehnsüchte zu
erkennen. Deshalb könnte man sich fragen:
- Was suche ich im Buddhismus?
- Warum spricht mich gerade diese Tradition an?
- Warum gehe ich in ein Dharma Zentrum?
- Was suche ich dort?
- Was gibt mir die Gruppe? Was sie gibt, sind das Ziele des Dharma?
- Woran mangelt es mir eigentlich?
- Kann ich das auch anders finden?
- … beliebig erweiterbar.
Weiteres
- Sich dem Buddhismus nähern - Dr. Alexander Berzin
- Schema zur Analyse der Dynamiken in der Beziehung mit einem spirituellen Lehrer - Dr. Alexander Berzin
- Missverständnisse in der spirituellen Lehrer-Schüler-Beziehung vermeiden - Dr. Alexander Berzin
- Die spirituelle Lehrer-Schüler-Beziehung - von Dzongsar Khyentse Rinpoche
- Die Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schüler - Ein Aufsatz von S.E. Loden Sherab Dagyab Kyabgön Rinpoche
- »Es liegen Welten dazwischen!« - Gedanken zur Lehrer-Schüler-Beziehung in der tibetischen und der westlichen Gesellschaft von S.E. Dagyab Kyabgön Rinpoche
- Spirituelle Lehrer - Dr. Alexander Berzin
»Wenn man von einem Lehrer bestimmte Erklärungen oder Anweisungen bekommt und sieht, dass diese nicht den Aussagen der Schriften der großen indischen Meister wie Nagarjuna oder Asanga entsprechen, sollte man lieber auf die Anweisungen dieses Lehrers verzichten als die Bedeutung der großen Schriften aufzugeben.« (Je Tsongkhapa)
Innere Voraussetzungen einer Person, die Buddhas Lehren empfangen möchte
Je Tsongkhapa gibt im Lam Rim Chen Mo folgende Erklärung über die definierenden Merkmale eines Schülers, der sich auf einen Lehrer verlässt:
Aryadeva sagt in den Vierhundert Versen:
»Es wird gesagt, jemand der unparteiisch, intelligent, und eifrig ist, ist ein Gefäß für die Unterweisungen. Ansonsten erscheinen weder die guten Qualitäten des Unterweisenden, noch die der Mithörenden.«
Bezugnehmend auf Chandrakirti kommentiert Je Tsongkhapa wie folgt:
Sind diese drei Eigenschaften vollständig vorhanden, erscheinen dem Zuhörenden die Qualitäten des Lehrers tatsächlich als Qualitäten und nicht als Fehler. Auch die Qualitäten der Mithörenden erscheinen ihm als Qualitäten, nicht als Fehler. »Wenn du diese drei definierenden Merkmale eines geeigneten Hörers der Lehren nicht besitzt, wird der Einfluss deiner eigenen Fehler bewirken, dass selbst die guten Qualitäten eines enorm reinen Lehrers, der Dich in der Lehre unterweist, als Fehler erscheinen werden und weiterhin wirst du die Fehler des Unterweisenden als gute Qualitäten wahrnehmen.«
[Anmerkung: Welche Qualitäten, man also sieht und wahrnimmt, hängt von der eigenen Qualifikation ab. Ob ein Lehrer qualifiziert ist und was er für Qualitäten hat, ist sein Karma, nicht das des Schülers. Der Schüler kann also erst nach Qualifikation von eigener Seite erkennen, ob der Lehrer qualifiziert ist oder nicht.]
Je Tsongkhapa erklärt zusammengefasst folgendes:
1. Unparteilichkeit: heißt keine Seite zu ergreifen. Er sagt wörtlich: »Seiten zu ergreifen heißt: Anhaftung für das eigene religiöse System zu haben und Feindseligkeit gegenüber anderen. Sehe in deinen eigenen Geist, ob es dort zu finden ist und wenn ja, dann lege es ab …« Im Lam rim ´bringba erklärt Je Tsongkhapa: »Ist jemand parteiisch, so ist seine Wahrnehmung dadurch behindert: Er ist blind für bestimmte Qualitäten und erkennt deshalb die Bedeutung guter Erklärungen nicht.«
2. Intelligenz, [oder unterscheidende Weisheit] »ist die Fähigkeit zwischen korrekten Pfaden guter Erklärungen und widersprechenden Pfaden schlechter Erklärungen zu unterscheiden. Fehlt diese [Intelligenz], bist Du nicht für die Lehren geeignet.« Im Lam rim ´bringba erklärt Je Tsongkhapa: »Intelligenz ist eine förderliche Bedingung für folgende vier Eigenschaften: Mit großem Interesse nach den Lehren zu streben, sich während des Zuhörens gut auf sie auszurichten, dem Lehrer großen Respekt entgegenzubringen sowie fehlerhafte Erklärungen zurückzuweisen und sich an gute zu halten.«
3. Eifrig bestrebt, die Bedeutung der Worte zu verstehen und nicht passiv dazusitzen, wie ein gemaltes Bild. (Gyaltsab Je kommentiert »eifrig« als »ein starkes Interesse an guten Dharmaerklärungen zu haben«. In einem mündlichen Kommentar wurde »eifrig« auch als »Enthusiasmus, der Freude am heilsamen Tun« dargelegt.)
Tsongkhapa schließt ab und sagt: »Prüfe, ob diese Eigenschaften, die dich geeignet machen, von einem Guru geführt zu werden vollständig sind; wenn sie vollständig sind kultiviere Freude. Wenn sie unvollständig sind, musst du ein Bemühen entwickeln, diese Ursachen vor deinem nächsten Leben zu besitzen. Deshalb kenne diese Qualitäten eines Hörers [der Lehren].«
Als vierte und fünfte Eigenschaft werden, Respekt gegenüber der Lehre und dem, der sie erklärt genannt.
Weiteres
- Was einen guten Schüler auszeichnet - S.H. dem Dalai Lama
- Die Qualitäten, die ein Lehrer besitzen sollte - Buddha Maitreya/Asanga
»Scharlatane haben heute mehr Erfolg als echte Meister. Die Leute sind leicht zu beeindrucken, und so ernennen sich manche in betrügerischer Absicht zu Meistern oder Siddhas.« (Patrul Rinpoche)
Auf Distanz zu einem falschen Lehrer gehen
Je Tsongkhapa zitiert im Kommentar zur tantrischen Ethik »Fruit Clusters of Siddhis« die Schrift Ornament for the Essence von Manjushrikirti:
»Distanziere Dich von Vajra-Meistern, die nicht die drei Gelübde halten, die mit einem Wurzelfehltritt weitermachen, die geizig sind mit dem Dharma und die sich in Handlungen engagieren, die aufgegeben werden sollten. Diejenigen, die solche (Vajra Meister) verehren, werden als Resultat davon in die Hölle gehen usw.«
Da man durch Nicht-Kenntnis, Täuschung, geschicktem Blenden, eigene Verwirrung, Parteilichkeit, u.v.a. Ursachen auf falsche Lehrer treffen kann und sich ihnen eventuell auch anvertraut hat, gibt es in den buddhistischen Schriften auch klare Anleitungen, was dann zu tun ist, wenn man dies feststellt. Es ist also ein normales Phänomen und kommt immer wieder vor … nicht nur in der Mahayana Literatur, auch in der Pali-Literatur (z.B. Angulimala in den Jataka Geschichten)
Padmasambhava:
»Den Lehrer nicht prüfen
Heißt Gift zu trinken.
Den Schüler nicht prüfen
Heißt in einen Abgrund zu springen.«
Patrul Rinpoche
»Wenn Sie einen Lehrer nicht sehr genau prüfen,
Vergeuden die von verehrender Hingebung Erfüllten ihr ganzes Verdienst.
Sie halten eine giftige Schlange für den Schatten eines Baumes
Und verlieren – einem Irrtum erlegen – die Freiheiten, die sie endlich gefunden hatten.«
Jetsun Gampopa
»Sich nicht auf einen Lama zu verlassen, der den edlen Dharma korrekt praktiziert, sondern einem betrügerischen Schwätzer zu folgen, ist völlige Verwirrung.«
Gampopa lehrt in der Kostbaren Girlande für den Höchsten Weg zehn Dinge, wo wir uns irren können:
- Begierde wird irrtümlicherweise für Vertrauen gehalten
- Anhaften wird irrtümlicherweise für Liebe und Mitgefühl gehalten
- Intellektuell geschaffene Leerheit wird irrtümlicher Weise für die Leerheit gehalten, die allen Phänomenen zugrunde liegt
- Die Sichtweise, dass 'nichts existiert', wird irrtümlicherweise für den Raum der Phänomene gehalten
- (Meditations-)Erfahrungen werden irrtümlicherweise für wahre Erkenntnis gehalten
- Scheinheiligkeit wird irrtümlicherweise für edles Verhalten gehalten
- Besessenheit von Mara wird irrtümlicher Weise für das Ende aller Täuschung gehalten
- Betrüger werden irrtümlichwerweise für Verwirklichte gehalten
- Eigennütziges Handeln wird irrtümlicherweise für Handeln zum Wohle anderer gehalten
- Betrügerei wird irrtümlicherweise für das geschickte Anwenden hilfreicher Methoden gehalten
Im Autokommentar zur Lehrer-Schüler-Beziehung erklärt der große Meister Jamgon Kongtrul Lodrö Thaye im achten Kapitel Teil 1 »Behinderung durch einen schädigenden Freund«:
»Im Allgemeinen ist der nichtspirituelle Lehrer ein Lama, Lehrer, Dharmabruder [oder Schwester] – all diejenigen, die den Phänomenen dieses Lebens verhaftet sind und die sich in unheilsame Aktivitäten verwickeln. Deshalb muß man den nichtspirituellen Freund verlassen. Obwohl sie das Verhalten der Güte in ihrem Erscheinen haben, verursachen sie, dass du in deiner eigenen Befreiung behindert wirst.
Der nichtspirituelle Lehrer hat ein schlechtes Naturell, wenig reine Sicht, ist sehr dogmatisch (rechthaberisch), hält als das Höchste die eigene Sicht des Dharma, lobt sich selbst, verleumdet andere, das schließt auch das Anschwärzen und Zurückweisen anderer Systeme des Dharma mit ein, und verleumdet den Lama – den wirklichen Weisheitslehrer [wirklich integere Lehrer] – der die Last trägt, anderen zu helfen.
Wenn du dich mit solchen verbindest, die diesem Typ entsprechen, werden, durch das Folgen und Vertrautwerden mit solch einem nichtspirituellen Lehrer und seinem ›Vorbild‹, sich seine Fehler auf dich übertragen und beflecken und dein Geistesstrom wird allmählich negativ. Diesen Punkt hervorhebend sagt die Schrift des Vinaya (tibetischer Dhammapada) und das Saddharmanusmriti-upasthana Sutra:So wie das saubere Kushagras,
Das einen faulenden Fisch umwickelt,
Ebenso beginnen wird zu faulen,
So werden es auch diejenigen,
Die einem verdorbenen Lehrer folgen.Der Anführer von Hindernissen zu allen guten Qualitäten ist der sündige Lehrer. Man sollte vermeiden sich mit ihm zu verbinden, zu reden oder gar von seinem Schatten berührt zu werden. In jeder Beziehung sei gewissenhaft im Aufgeben des verdorbenen Lehrers.«
Jamgon Kongtrul rät an anderer Stelle:
»Hat man erst nach dem Anvertrauen erkannt, dass der Lehrer nicht qualifiziert ist, sollte der Student friedlich von diesem Lama Abstand nehmen. Das sollte ohne Kritik oder irgendeine Negativität getan werden.«
Diese Aussage wird durch das Kalachakra Tantra gestützt:
Wenn man zu viele objektive Fehler im Lehrer sieht, kann man zu ihm auf
Distanz gehen. (Das gilt selbst dann, wenn man von ihm Höchste
Yoga Tantra Einweihungen hat.)
In den mündlichen Kommentaren heißt es, man geht und neutralisiert die Beziehung, d.h. nimmt eine neutrale Stellung ein. Eine kurze Zusammenfassung des Aufgebens in der mündlichen Tradition, habe ich bereits auf der Kriterienseite gegeben.
In Jamgon Kongtrul Lodro Thaye's Kommentar zur Buddhistischen Ethik² findet man (Zitat):
Den Lehrer, den man nicht beachten sollte und der, den man bevorzugen sollte
Vermeide einen Meister dessen Eigenschaften denen wahrer Lehrer widersprechen;
Da aber voll qualifizierte Meister selten sind, folge einem, der mit Qualitäten angefüllt ist.Ein Lehrer, dessen Eigenschaften den Merkmalen eines Meisters widersprechen, steht außerhalb von Buddhas Lehre und kann nicht als spiritueller Lehrer angenommen werden. Konsequenter Weise, selbst wenn der Lehrer sehr berühmt, tatkräftig etc. ist, der unterscheidende Student sollte (dieser Mängel) gewahr sein und sich selbst (von diesem Lehrer) trennen. Das sollte selbst dann getan werden, wenn bereits eine Lehrer-Schüler-Beziehung gebildet wurde. Hat man eine solche Beziehung noch nicht gebildet, sollte man das (Herstellen einer solchen) von Anfang an vermeiden. Sakya Pandita sagt:
Trenne dich vom spirituellen Lehrer
Der nicht mit Buddhas Lehren übereinstimmt.Wir sollten lernen, wie man anhand der vielen Beschreibungen, die in den Schriften gegeben werden, (schlechte Lehrer) erkennt und diese dann vermeiden. Zum Beispiel heißt es im Zusammengefassten Tantra (des Rades der Zeit):
Stolz, Gegenstand unkontrollierbarer Wut, in Widerspruch zu den Gelübden handelnd, der Veruntreuung schuldig, ignorant (gegenüber der Lehre), mutwillig die Studenten täuschend, es versäumt habend in den Zustand erhabener Glückseligkeit einzutreten, uneingeweiht, ein Skalve des Reichtums und der Vergnügen, unbesonnen, grob in der Rede, und besessen von sexuellem Verlangen: Weise Studenten, die volle Erleuchtung wünschen, sollten solche Lehrer meiden, wie sie die Hölle meiden würden.
Da wir in einer (degenerierten) Zeit leben, werden wir sehr selten einen Lehrer, der mit allen nötigen Qualifikationen ausgestattet ist finden. Da es sein könnte, dass wir nie einen solchen Lehrer treffen, sollten wir einen Meister annehmen, der viele gute Qualitäten hat und sehr wenig Schwächen. (Pundarika’s) Endgültige Kenntnis sagt:
In diesem Zeitalter des Konflikts,
werden spirituelle Meister beides zeigen, Fehler und Tugenden;
Nicht einer ist absolut untadelig.
Deshalb, untersuche selbst diejenigen gut, die mit Tugenden glänzen,
bevor du beginnst, mit ihnen zu studieren.
Im Tibetischen Dhammapada heißt es:
undDer Hingebende erlangt dieselben Fehler
Wie die Person, die der Verehrung nicht wert ist,
So wie der unbefleckte Pfeil verunreinigt wird,
durch einem verunreinigten Köcher.Standfeste, die die Verunreinigung durch Fehler fürchten,
Befreunden sich nicht mit schlechten Freunden,
Durch festes Vertrauen und Hingabe
An seinen Weggefährten, wird man schnell genauso
Wie das Objekt der Verehrung.Weise Wesen sind diejenigen,
Die kindische Wesen erkennen, als das was sie sind,
›Kindische Wesen‹ sind diejenigen,
Die Kindische für weise halten.Hingabe an kindische Wesen bringt Leid,
Denn sie sind wie der eigene Feind.
Es ist besser nie von solchen Personen zu hören oder sie zu sehen
Oder Hingabe zu ihnen zu entwickeln.
So wie selbst ein verrotteter Baumstamm in einem Sandelholzwald,
Allmählich den Duft des Sandelholzes annimmt,
Werden Schüler, die sich weisen, gütigen Lehrern mit Qualitäten anvertrauen,
Allmählich all ihre Qualitäten in sich aufnehmen.
Drei Wunschgebete von Je Tsongkhapa aus dem Gebet für den Anfang, die Mitte und das Ende der Praxis:
Möge ich von wahren spirituellen Freunden umsorgt sein,
Die von Wissen und Einsicht erfüllt sind,
Mit mit beruhigten Sinnen und kontrolliertem Geist, liebend, mitfühlend
Und dem Mut unermüdliche für andere zu arbeiten.Möge ich nie unter den Einfluß
Falscher Lehrer und irreführender Freunde fallen,
Ihren fehlerhaften Sichtweisen über Existenz und Nicht-Existenz,
Die außerhalb von Buddhas Absicht sind.Möge ich diejenigen auf den Pfad bringen,
Der von Buddha gepriesen wird,
Die auf falsche Pfade fielen und sich darin verfangen haben,
Beeinflusst von verblendeten Lehrern und trügerischen Freunden.
Weiteres
- Fünf Arten falscher Meister - Die Worte Buddhas
- Der Buddha über enge Freunde - Mitra-vargha
- Lehrer, die man meiden sollte - Dza Patrul Rinpoche
- Untersuchung unethischen Verhaltens - Sakya Pandita
- Die Qualitäten, die ein Lehrer besitzen sollte - Buddha Maitreya/Asanga
- Den Ratschlag des Lehrers in Frage stellen - S.H. der XIV. Dalai Lama
- S.E. Dagyab Kybgön Rinpoche:
- Die Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schüler
- »Es liegen Welten dazwischen!« - Gedanken zur Lehrer-Schüler-Beziehung in der tibetischen und der westlichen Gesellschaft
- »Reine Sicht«
- Interviews mit Dzongsar Khyentse Rinpoche:
- Sich richtig auf den Lehrer stützen - Jetsunma Tenzin Palmo
- Alle Traditionen würdigen - Interview mit Chokyi Nyima Rinpoche