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Frag den Lama: „Alle Traditionen würdigen“

Ein Interview des Mandala Magazins mit Chokyi Nyima Rinpoche

Frage: Viele Praktizierende wertschätzen eine nicht-sektiererische Geisteshaltung, wie sie in der Rimé-Bewegung vorzufinden ist. Sollten wir diese ebenso praktizieren und mehrere Linien studieren?

Antwort: Es gibt da eine traditionelle Analogie für buddhistische Belehrungen. Besitzt man einen großen Topf mit Melasse, so schmeckt sie überall gleich süß, unabhängig davon, von welcher Seite aus wir sie kosten. So verfügen die verschiedenen 84.000 Lehren, welche Buddha gegeben hat, alle über eine besondere Qualität, und zwar stellt jede von ihnen ein Gegenmittel zu negativen Emotionen dar. Welche von ihnen wir anwenden ist eine persönliche Angelegenheit.

In der Vergangenheit hat es viele Praktizierende gegeben, die nicht nur in einer unvoreingenommenen Art und Weise von vielen verschiedenen Traditionen lernten, sondern diese auch zur selben Zeit praktizierten. In jüngster Vergangenheit gab es zwei große Meister – Jamyang Khyentse Wangpo und Jamgon Kongtrul Lodro Thaye – beide strebten danach, alle verfügbaren Linien zu finden, Belehrungen von ihnen zu erhalten und sie praktizierten diese dann gemäß ihren Fähigkeiten. Aber es gibt einen Meister, den ich persönlich getroffen habe, dies ist Khunu Lama Tenzin Gyaltsen, und niemand wusste, selbst nachdem er gestorben war, welcher Linie er tatsächlich angehörte. Kagyu Lehrer erhielten Kagyu-Belehrungen von ihm und demzufolge dachten sie, es handle sich um einen Kagyu Lehrer; Gelug-Anhänger dachten, er wäre Gelugpa; Sakyas dachten, er wäre ein Sakyapa; und Nyingma’s dachten, er wäre ein Nyingmapa. Auch ich habe persönlich viele Instruktionen von ihm erhalten, aber er äußerte sich dabei nie über seine Präferenz.

Er berührte mein Herz sehr. Er öffnete mein Herz für die nicht-sektiererische Geisteshaltung. Ich respektiere alle Linien und Lehren wirklich sehr. Ich habe Belehrungen von allen Linien erhalten. Jede hat ihre Besonderheit. Einerseits sind sie alle eins; andererseits hat doch jede ihre Besonderheit. Wenn wir wissen, dass jede über eine Besonderheit verfügt, werden die Linien, gleichsam wie eine Auswahl an schmackhaften Speisen, sehr bedeutsam, sehr reichhaltig und sehr „bekömmlich“. Wer auch immer genügend Zeit und Energie besitzt, kann alle Linie studieren und auf diese Weise praktizieren. Welcher Linie du auch immer angehörst, praktiziere! Es ist sehr wichtig, alle Linien zu respektieren, und zwar in reiner Art und Weise, vom Grund deines Herzens. Das ist sehr, sehr wichtig.

Frage: Stellen verschiedene Ansätze nicht ein Risiko dar, verwirrt zu werden?

Antwort: Verwirrung gibt es immer, wenn man die Belehrungen nicht genügend studiert hat und wenn man nicht versteht, was die jeweiligen Positionen ausmachen. Wenn man nicht weit reichende Studien betrieben hat, ja, sicher, dann wird man etwas missverstehen. Aber dies hat nichts damit zu tun, ob man nun nicht-sektiererisch ist oder nicht. Hat man nichts über seine eigene, jeweilige Linie gelernt, so kann man diese auch falsch verstehen! [lacht] Ich möchte hier meine Hände falten und von den Lesern eine bestimmte Sache erbitten: wir sind immer darin gefährdet, sektiererisch zu werden, sogar bevor wir uns überhaupt ein richtiges Verständnis von unserer eigenen Linie aneignen konnten. Wir sollten uns in die entgegen gesetzte Richtung bewegen. Studiert und lernt gut, seid zur gleichen Zeit aufgeschlossen und respektvoll anderen gegenüber.

Chokyi Nyima Rinpoche

Chokyi Nyima Rinpoche ist ein Lehrer der nicht-sektiererischen Rimé-Bewegung. Er hält zugleich die Kagyu und die Nyingma Linie. Er ist ein Khenpo und Abt des Ka-Nying Shedrub Ling Klosters, eines der größten Klöster in Nepal. Rinpoche ist der älteste Sohn von Tulku Urgyen Rinpoche, der ein Lehrer des 16. Karmapa und anderer Meister war. Er ist der Autor der Bücher: „Song of Karmapa“, „Bardo Guidebook“, „Indisputable Truth“ und „Present Fresh Wakefulness“.

Der Rimé-Lehrer Chokyi Nyima Rinpoche ist ein alter Schulfreund von Lama Zopa Rinpoche und wurde vom Mandala Magazin in seinem Zentrum Rangjung Yeshe Gomde in Legget, Kalifornien interviewt. Sein Übersetzer Erik Pema Kunsang assistierte ihm in diesem Interview.

Erik Pema Kunsang war früher Tulku Urgyen Rinpoche’s Übersetzer. Tulku Urgyen Rinpoche’s Memoiren, „Blazing Splendor“, ist eine von Erik’s zahlreichen Publikationen.

© Mandala · Übersetzerin: Claudia Landor · veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Mandala Magazins · Originaltext veröffentlicht in Mandala Oct/Nov. 2006