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»Es liegen Welten dazwischen!«

Gedanken zur Lehrer-Schüler-Beziehung
in der tibetischen und der westlichen Gesellschaft

Loden Sherab Dagyab Kyabgön Rinpoche

S.E. Dagyab Kyabgön Rinpoche

In der tibetischen Gesellschaft sind wir gebürtige Buddhisten. Seit der Geburt sind die Tibeter in Berührung mit dem Buddhismus. Zum Beispiel haben wir die Rezitation der Zuflucht oder das Mantra OM MANI PADME HUM usw. – es ist nicht übertrieben – einfach so beiläufig gelernt, weil unsere Eltern und die ganze Verwandtschaft sie ständig rezitierten.

Das alte Tibet

In Tibet setzte man sich meistens vor der Abendsuppe in der Küche zusammen und machte Gebete. Die Familie sprach die Zufluchtsformel und dann hauptsächlich auch Tara-Gebete und wiederholte diese ca. eine halbe bis dreiviertel Stunde. Bei den Adligen sah es ein bisschen anders aus, da sehr viel privat, individuell gemacht wurde, nicht so viel in Gemeinschaft. Bei uns, in meiner Familie, haben sich alle Familienmitglieder in der Küche versammelt. Hier war es viel wärmer, die Getränke waren in Reichweite, hier wurden die Gebete gemacht.

In Tibet lernen die Kinder die buddhistischen Aktivitäten beiläufig, quasi nebenbei. Zusätzlich machen die Eltern Niederwerfungen, bringen Opfergaben dar, sie fahren auch zu den Tempeln.

Als ich klein war – ich konnte gerade laufen –, wurde mein Vater in seiner Funktion als Schneider öfter zum Dorfkloster gerufen. Oft hat er mich damals mitgenommen. Auf dem Weg dahin gab es einen Fluss, den wir reitend auf dem Pferd überqueren mussten. Ich durfte hinter seinem Rücken stehen – die Füße auf dem Pferd und die Arme um seine Schultern. Das hat mich sehr fasziniert. Auf diese Weise konnte ich oft mit zum Kloster reiten. Dort lebte auch unser Onkel als Mönch mit seinen – aus meinen Kinderaugen betrachtet – unermesslichen Reichtümern. Ein beliebtes Spiel war es für mich, neugierig seine Schränke zu durchwühlen und alle seine Sachen und Ritualgegenstände herauszuholen. So war unser ganzes Familienleben wie selbstverständlich vom religiösen Leben durchdrungen.

Dharma-Leben durch und durch

Und ich kenne keinen Tibeter, der zunächst kein Buddhist war, keine Zuflucht genommen hatte und dann in einem formellen Akt Buddhist geworden wäre. Das »Dharma-Leben« war durch und durch mit unserem Alltag verbunden.

So gesehen ist Verehrung gegenüber unserem Lehrer selbstverständlich. Alle religiösen Gegenstände sind für uns außerordentlich wichtig. Es ist gar keine Frage, ob diese zu verehren sind oder nicht. Automatisch werden sie als Verehrungsobjekt betrachtet. Buddha und insbesondere Bücher – die Symbole des Dharma – sind besonders heilig, deshalb sollte man sie nicht auf den Boden legen und darüber steigen. So was braucht man den Kindern gar nicht beizubringen, man macht es einfach vor. Und dann die Sangha: Die Mönche und Nonnen sind besondere Verehrungsobjekte.

Wann immer wir ein bisschen Geld zur Verfügung hatten – auch wenn wir selbst nicht viel hatten, versuchten wir dennoch, immer große Opfergaben der Sangha, dem Kloster oder anderen spirituellen Personen zu geben. Das gehörte dazu, darüber brauchte man sich gar keine Gedanken zu machen. Normalerweise sind wir Tibeter, wenn es uns oder die Familie angeht, geizig: »Man darf nicht oder wir dürfen nicht zu viel ausgeben«. Aber wenn es um religiöse Opfergaben geht, da gibt es keine Beschränkung, auch wenn man selber kaum noch etwas zu essen hat. Das ist einfach vorrangig. Das ist unsere Dharmawelt. So gesehen haben wir die Verehrung in unserem Blut.

Änderungen

Was unsere Verehrung speziell dem Lama gegenüber angeht: Allein wenn wir »Lehrer« sagen, hat das Wort ein Gewicht. Lehrer ist kein Beruf wie hier in Deutschland. Hier gibt es Hauptschullehrer, Tanzlehrer, Musiklehrer usw. Lehrer ist einfach ein Beruf, den jemand erlernt hat. Das ist keine Besonderheit. Deshalb ist es für Westler und Nicht-Tibeter, besonders für Westler, außerordentlich schwierig, diese wertschätzenden Gedanken gegenüber dem Lehrer zu haben.

Oft wird in Tibet gesagt: Der Lama ist Buddha, ihr müsst den Lama als Buddha ansehen. Wie gesagt ist die Vermischung zwischen Tantra und Sutra sehr stark. Zum Beispiel: Die Bezeichnung »Vajradhara« ist ja im Sutra und Vinaya überhaupt nicht bekannt. Ich sage mal etwas provokativ: Allein diese »vorgeblichen« Unterweisungen des Buddhas in seiner tantrischen Form als Vajradhara sind im Sutra und Vinaya ungültig. Das ist eine rein tantrische Sichtweise. Daher muss man diese Sichtweise in der nicht-tibetischen Gesellschaft, heutzutage sogar auch in der tibetischen Gesellschaft, von der herkömmlichen unterscheiden. Das ist viel gesünder, sonst klappt es nicht so gut. Früher in Tibet, in der guten, alten Zeit, war dies alles in der tibetischen Gesellschaft einfach so problemlos akzeptiert worden. Niemand hat es in Zweifel gezogen, dass der Lama dem Buddha gleichgesetzt wurde. Aber die heutigen tibetischen Jugendlichen sind – wenn ich ein bisschen übertreibe – ungläubig! Sie sehen, was ihre Omas und Opas machen, aber sie selbst haben eigentlich keine besondere Hingabe. Das ist schwer, sehr schwer für sie. Wenn ich nach Indien gehe und jüngere Tibeter treffe, merke ich das schon deutlich. Sie möchten sich nicht bloßstellen und in peinliche Situationen bringen. So versuchen sie, mir oder anderen Würdenträgern irgendwie etwas Respekt gegenüber zu zeigen, so wie man es zum Beispiel den Großeltern gegenüber tut. Aber sie wissen eigentlich gar nicht mehr, was Respekt oder Verehrung heißt. Wozu überhaupt? Das ist für sie dermaßen schwierig. Vom Herzen her haben sie keinen Bezug, keinen Respekt, keine Verehrung.

Deshalb ist es absolut Unsinn, von diesen Menschen zu verlangen, den Lama als Vajradhara vorzustellen. Das nutzt nichts. Dann kann es als Dogma angesehen werden, und das ist mehr schädlich als nützlich für den Buddhismus. Und mit dieser Verantwortung haben wir Lehrer, insbesondere die Lehrer, die in der tibetischen Gesellschaft leben, auch Schwierigkeiten. Insbesondere die Jüngeren, welche zumindest einige Englischkenntnisse haben, merken, dass es nicht mehr so richtig läuft und das tibetisch- buddhistische System überdacht werden muss. Insbesondere dank den mehrmaligen Hinweisen des Dalai Lama. Seine Heiligkeit blickt vollkommen durch und macht so viele kritische Äußerungen in der tibetischen Gesellschaft. Aber an den Schaltstellen sitzen lauter Fanatiker, die sind sehr sehr dickköpfig. Sie haben keinerlei Interesse, für sie gibt es keinen Nutzen, ihre geistige Einstellung zu ändern oder zu denken, dass da etwas nicht so richtig läuft. Sie hocken entweder in der Sera-, Ganden-, oder Drepung-Klosteruniversität, im Nyingma-Kloster in Bylakuppe oder in verschiedenen Kagyü- oder Sakya-Klöstern. Sie hocken in ihrer jeweiligen Welt. Und sie bewegen sich nicht außerhalb ihres Lebensbereiches, schauen nicht in die Welt hinaus, wie es da überhaupt läuft. Sie fragen überhaupt nicht: Wie können wir den Nutzen für alle anderen Lebewesen erwirken? Das passiert nicht. Es liegen Welten dazwischen. Das ist ein grosses Problem für die buddhistische Entwicklung.

Westlicher »Segen«

Aber wie sieht es im Westen aus? Ich selber bin damals nach Deutschland gekommen ohne Kenntnisse der westlichen Verhaltensweise. Zunächst musste ich die deutsche Sprache lernen. Dafür habe ich zuerst den Abend-, später Nachmittagsunterricht der Berlitz-Schule besucht. Am Anfang bin ich augenblicklich aufgestanden, wenn die Lehrerin den Klassenraum betreten hat. Es war unmöglich für mich, nicht aufzustehen und sitzen zu bleiben. Das ging nicht. Aufzustehen und damit Verehrung zu zeigen für die Qualitäten, die sie mir vermittelte, das war für mich einfach im Blut. So ging es einige Jahre.

Dann habe ich auch »westlichen Segen« bekommen. Und dadurch war ich in der Lage, wenn die Lehrerin oder der Lehrer kam, einfach nicht mehr zu reagieren.

Für uns ist es einfach so: Wenn mir zum Beispiel jemand das Schreiben beibringt, ist er oder sie auch ein Objekt, demgegenüber ich Verehrung erzeugen kann, muss und möchte. Wenn jemand mir auch nur einen einzigen Vers inhaltlich beigebracht hat, ist er oder sie auch mein Lehrer und dadurch ein Verehrungsobjekt. Allein das Wort Lehrer »Ge-gen« auf tibetisch. »Ge« heißt »heilsam«, »Tugend« und »gen« heißt einerseits »älter« und andererseits auch älter im Sinne von »höher« und »qualitativ höher stehend«. Dieses Wort sagt auch sehr, sehr viel, nicht wahr? Natürlich spricht man ältere Mönche oder seinen Lehrer als »Gen-la« an. »Gen« heißt, was ich gerade gesagt habe, und »la« ist ein höflicher Ausdruck, der Verehrung ausdrückt. Heutzutage wird in Tibet – bedingt durch den Einfluss der chinesischen Kultur – das Wort »Gen-la« inflationär verwendet. Man nennt alle Männer, deren Namen man nicht kennt, »Gen-la«. Das ist total daneben. Na ja, eigentlich haben die tibetische und chinesische Kultur den gleichen Hintergrund. In der chinesischen Sprache bedeutet lau che »Lehrer«, Lehrer im Sinne von »Gen-la«. Das wurde einfach in die chinesische Alltagssprache übertragen und wird nun für alle, die etwas älter als man selbst sind, gebraucht, ohne sich weitere Gedanken zu machen.

Uneingeschränktes Verehrungsobjekt

Ein guter Freund von mir, Dakphu Dorje Chang – er war ein großartiger Rinpoche und drei bis vier Jahre älter als ich, und ich haben beide einige Male Unterweisungen vom Dalai Lama bekommen und saßen dabei öfter nebeneinander. Er hatte einen Philosophielehrer, der zwar ein guter Lehrer, aber kein guter Mensch war. Alle wussten, dass er keine gute Person war. Aber für Dakphu Dorje Chang war er ein Verehrungsobjekt. Ich habe es nie gesehen, aber gehört, dass er, wenn sein Lehrer einen Raum betrat und dabei die Schuhe auszog, als Ausdruck seiner Verehrung diese auf den Schrank stellte. Später hat Dakphu Dorje Chang – er war nicht sehr lange im Kloster – plötzlich sein verinnerlichtes Wissen gezeigt. In seiner Heimat in Nagchu hat er drei Monate lang großartige Unterweisungen zu Tsongkhapas großem Lamrim gegeben und große Ermächtigungen zu Guhyasamaja, Chakrasamvara, und Vajrabhairava gegeben. Kurze Zeit später ist er – wie wir Tibeter sagen – freiwillig verstorben: Kurz vor seinem Tod hat er geschrieben, dass er nicht mehr hier bleibe, dass seine Aktivität in dieser Existenz zu Ende gehe. Die Notiz hat er unter sein Kopfkissen gelegt und dann im meditativen Zustand seinen Körper verlassen. Damals war er 21 oder 22 Jahre alt. Alle sprachen davon, dass seine Fähigkeiten daher kamen, wie er als Schüler seinen Lehrer angenommen hatte. Das geschieht also unabhängig davon, ob der Lehrer ein guter, liebevoller Mensch war. Es steht nur zur Debatte, wie er als Schüler seinen Lehrer angenommen hat.

Es war in unserem Kulturkreis immer bekannt, dass manche Rinpoches zu wenig Respekt hatten, deshalb konnte sich die Aktivität gar nicht richtig entfalten. Dann läuft immer irgendwie etwas schief. Das ist das Ergebnis, dass man den Lehrer nicht korrekt angenommen hat. Die Basis aller Qualität ist bestimmt durch die Art und Weise, wie man seinen Lehrer annimmt. Davon ist der Erfolg abhängig. Zumindest früher in der Kadampa-Zeit war es allen bekannt und auch heute, wenn man mit der alten Kultur vertraut ist, weiß man, dass, wenn man den Namen des Lehrers ruft, man zum Beispiel nicht einfach sagt Trijang Rinpoche. Das sagt man nicht, das kann man einfach nicht sagen. Diesen Namen in der Form auszusprechen, das tut uns weh. Stattdessen sagt man selbstverständlich Kyabje Dorje Chang, der »Schutzherr des Vajradhara«. Ein weiteres Beispiel: Zum Dalai Lama sagt niemand Gendün Gyatso. Vor 1959 hat niemand Dalai Lama gesagt. Der Name kam nur in der Literatur vor. Man nannte ihn Gyalwa Rinpoche oder Kündün, aber nicht Dalai Lama. Das ist einfach ein Ausdruck von fehlendem Respekt. Das tut in den Ohren sehr weh.

Jedenfalls muss diese Hingabe zum Lehrer untrennbar in der eigenen geistigen Haltung durch und durch verankert sein.

Verankerung ins Gemeinschaftsleben

Noch einmal: Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist in der tibetischen Gesellschaft ohne Unterschied zwischen Laien und Ordinierten einfach ein Bestandteil des Lebens. Entsprechend kann das Klosterleben nur auf dem Hintergrund dieser Beziehung verstanden werden. Alles dreht sich um die Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schüler. Es geht um nichts anderes. Studium und Gebet hängen vom Lehrer ab. Laien dagegen sind nicht sehr interessiert daran, dauernd Unterweisungen zu hören oder zu studieren, aber in jedem Dorf ist bei Krankheit oder Tod der Lehrer als spirituelle Bezugsperson immer da. Es gibt kein Dorf ohne spirituelle Betreuungsperson. So ist dieser Bezug in der Gemeinschaft sehr verwurzelt und lebendig.

Hinzu kommt, dass in der gesamten Lebensweise das Gesetz von Ursache und Wirkung sehr stark verankert ist. Durch diese Verbindung entwickelt man die Haltung, die Gedanken auf heilsames Handeln zu richten und Unheilsames zu vermeiden. So begreift man auch die Vorzüge der starken Verbindung zum Lehrer. Dadurch gelangt man auch zu mehr Lebensqualität.

Natürlich haben auch Tibeter psychische Probleme, aber sie sind nicht so schwerwiegend dank der Verbindung zum Lehrer. Auch in Angesicht des Gesetzes von Ursache und Wirkung lernen sie den Umgang mit psychischer Krankheit, indem sie sie als Ergebnis von früherem schlechtem Karma verstehen. So wird es nicht so dramatisch. So gesehen macht die Verbindung mit dem Lehrer das Leben leichter, lebendiger und einfacher. Man steht nicht allein im Leben, sondern hat sowohl den Rückhalt von der Familie und vor allem auch vom spirituellen Lehrer. Durch das Gemeinschaftsleben entsteht mehr Freude und Zuversicht. Der Nutzen, einen spirituellen Lehrer zu haben, ist deshalb sehr groß.

Hier in Deutschland kann man das nicht erwarten, da der Aufbau der Gesellschaft ganz anders ist. Wir können nicht erwarten, in jedem Dorf einen spirituellen Lehrer zu haben. Zwar gibt es in jedem Dorf eine Kirche, aber der Bezug ist meistens nicht so lebendig. In der tibetischen Gesellschaft ist die Verankerung im Gemeinschaftsleben viel tiefer.

Gekürzte und bearbeitete Abschrift einer Unterweisung von Dagyab Rinpoche im April 2007. Transkription von Claudia Frey und Corinna Althaus. Erschienen in Chökor Dezember 2007, Seiten 7-10.

© Chökor mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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Über den Autor

Seine Eminenz Loden Sherab Dagyab Kyabgön Rinpoche lebt seit 1966 in Deutschland und zählt zu den großen Gelug Meistern der Gegenwart. Er ist der einzige Hothogthu der im Westen lebt und sowohl fest im tibetischen Buddhismus verwurzelt ist, als auch den Hintergrund westlicher Kultur und westllichen Denkens sehr gut kennt. Er gilt zudem als derjenige, der die meisten Übertragungslinien der Gelugpa-Linie, aber auch umfassende Übertragungslinien der Sakya- und Kagyü-Schulen hält. Zur Biografie.

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