Was eine alternativ – spirituelle Gruppe zum problematischen Kult macht: Psychologische Kriterien zur Beurteilung von Destruktiven Gruppierungen

Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V.
Religionspsychologie, Spiritualität und Psychomarkt

Die Esoterik und Sektenszene verändert sich ständig und treibt immer wieder neue Blüten

Psychomarkt und Esoterikszene boomen, „Illusionsverkäufer” haben Hochkonjunktur. Mehr oder minder abstruse Ideen werden in der Szene propagiert, mehr oder minder absurde Methoden und Techniken werden dort praktiziert. Und es wird viel Geld damit verdient. „Sekten” und destruktive Kulte – so vermelden die Medien – verzeichnen ungebremsten Zulauf.

Na und, könnte man sagen, die Welt ist schließlich groß genug, daß jeder auf seine Weise Unrecht haben kann. Wenn es nur so einfach wäre: An die 300 religiösen Sondergemeinschaften, „Sekten” und Psychokulte mit 1,5 - 2,5 Mio. Mitgliedern soll es in Deutschland geben – und immer wieder entstehen neue.

Dabei ist sicher nicht jede spirituelle oder alternative Gruppe schon per se problematisch. Und erst recht nicht ist Sekte gleich Sekte, Psychokult gleich Psychokult. Esoterik- und Sektenszene sind ein unübersichtlicher Dschungel, der sich ständig verändert und neuartige Blüten treibt.

Vielfach fehlen allerdings die Kriterien zur Einschätzung solcher Gruppierungen: Was genau macht eine Gruppe problematisch oder gar gefährlich? Wodurch wird sie zum „Destruktiven Kult”, der Menschen abhängig macht, ausbeutet oder zerstört? Welche Mechanismen sind es, mit denen das passiert?

Wie läßt sich andererseits erkennen, ob sich hinter einer „Sektenhatz” nicht interessengeleitete Panikmache von traditionellen Institutionen verbirgt, denen die Mitglieder weglaufen?

Gerade weil das Feld so unübersichtlich ist und die Gruppierungen so verschieden voneinander sind, ist es nötig, objektive Kriterien zur differenzierten Beurteilung, quasi ein Raster, zu finden, um ein „Profil” der entsprechenden Gruppe (bezogen auf ihre Problematik oder Gefährlichkeit) zu erstellen. Hierzu soll die folgende Checkliste dienen. Sie ist in sechs Bereiche gegliedert, die bei den einzelnen Gruppierungen zu Problemfeldern werden können (oder schon geworden sind):

  1. Ideologie
  2. Die zentrale Figur
  3. Gruppenstruktur
  4. Einfluß auf das Mitglied
  5. Techniken der Persönlichkeitsveränderung
  6. Kontakte nach außen und Umgang mit Ehemaligen und Kritikern

1. Ideologie: Theorie, Glauben, Ziele

Hier geht es um den theoretischen Hintergrund der Gruppe. Denn nicht nur die Praxis, sondern auch die ideologische Ausrichtung kann zu vielfältigen Problemen führen – vor allem, wenn folgende Tendenzen vorherrschen:

  • „Überwertige Idee”: Das Paradies auf Erden oder der „neue Mensch” ist mit Hilfe der Lehre kurzfristig herstellbar (Allmachtsphantasien, Größenwahn).
  • Wahrheitsmonopol: Die Gruppe hat (ihrer Ansicht nach) das einzig gültige Welterklärungssystem.
  • Schwarz-Weiß-Denken: Einfache Gut-Böse- oder Richtig-Falsch- Muster prägen das Denken und Handeln.
  • Endzeitvision: Der Weltuntergang ist nahe (für Ungläubige).
  • Rettungsplan: Patentrezepte, die das Heil (nur für Gläubige) versprechen.
  • Expansiver Machtanspruch: „Wir müssen die Welt retten”, ist der Tenor.

2. Die zentrale Figur: Führer, Guru, Meister(in)

Hier sind vor allem folgende Punkte zu beachten:

  • Führerkult: Er/Sie wird als Gott, Heiliger oder„Channel” verehrt, ist allmächtig, hellsichtig oder hat Wunderfähigkeiten.
  • Führungsstil: Er/Sie hat oberste (nicht mehr kritisierbare) Autorität, verlangt kritiklose Loyalität und beansprucht Wahrheitsmonopol.
  • Charismatisierung: Heiligenverehrung und idealisierende Legendenbildung werden propagiert.

3. Gruppenstruktur: Elitegemeinschaft

Hier stehen folgende Punkte im Vordergrund:

  • Abschottung nach außen: Die Gruppe ist ein geschlossenes System mit starren Außengrenzen.
  • Hohe Gruppenkohäsion: Die Gruppe hält zusammen „wie Pech und Schwefel”, überwacht, kontrolliert und bestraft sich gegenseitig. Eventuell gibt es eine interne Sondersprache.
  • Es existiert eine steile Hierarchie, mit Befehlsgewalt der Oberen, Gehorsam des einfachen Mitglieds und gestaffeltem Informationssystem.
  • Elitebewußtsein: Gruppenmitglieder fühlen sich als Avantgarde zur Rettung der Welt/Menschheit. Missionierungszwang und/oder Märtyrerideologie prägen das Gruppenbewußtsein.
  • Ausbeutung: Gruppenmitglieder lassen sich (mehr oder weniger freiwillig) materiell oder/und als billige Arbeitskräfte ausnutzen.
  • Subversive und illegale Tätigkeiten: Die Gruppierung glaubt, über dem Gesetz zu stehen und drängt Mitglieder (offen oder versteckt) zu illegalen Tätigkeiten (Erpreßbarkeit!).

4. Einfluß auf das Mitglied: Bewußtseinskontrolle

In diesem Bereich geht es um die perönlichen, die individuellen Ebenen der Beeinflussung:

  • Entindividualisierung: Die totale Hingabe wird gefordert, die Gruppe und das gemeinsame Ziel ist wichtiger als der Einzelne.
  • Einfluß auf die alltägliche Lebensgestaltung: Es gibt Vorschriften für Essen, Kleidung, Körperpflege, Tagesgestaltung, Ausgangsund Kontaktsperren, Telefon- und Briefkontrollen. Beziehungen und Sexualität werden reglementiert.
  • Materielle Abhängigkeit: Das Gruppenmitglied hat kein Privateigentum und/oder kein Geld. Es wird für seine Arbeit nicht bezahlt und ist nicht kranken-, unfall- oder rentenversichert. Pass, Führerschein o.ä. werden gemeinsam aufbewahrt.
  • Magisches Denken herrscht in der Gruppe vor: „Alles ist vorbestimmt”, „Gott will es so”.
  • Bruch mit der persönlichen Lebensgeschichte: Beziehungen zur Herkunftsfamilie, zu Partnern und Freunden werden abgebrochen, Schule, Studium, Beruf werden aufgegeben. Die bisherige Lebensgeschichte wird uminterpretiert.
  • Sektenidentität: Das Gruppenmitglied bekommt einen neuen Namen, bewegt sich fast ausschließlich in der Gruppe und unterliegt einer allmählichen „Umwertung aller Werte”. Damit einher geht ein Verlust von Realität und von Tauglichkeit für ein Leben außerhalb der Gruppe. Es entwickelt sich psychische Abhängigkeit. 

5. Techniken zur Persönlichkeitsveränderung

  • Es werden emotionsmobilisierende, euphorisierende und bewußtseinsverändernde Techniken eingesetzt: Hyperventilation, Chanten, Zungenreden, exzessive Meditation, etc.
  • Wiederholte Labilisierung durch Fasten, Schlafentzug, körperliche und psychische Überforderung, sensorische Deprivation, etc.
  • Das Ziel ist dabei eine Art „Spirituelles Erlebnis”, das von der Gruppe dann als Geburt des wahren Menschen interpretiert wird („Endlich habe ich mich selbst gefunden”).

6. Kontakte nach Außen und Umgang mit Ehemaligen und Kritikern

  • Die Gruppe praktiziert manipulative Anwerbemethoden, in denen mit unrealistischen Versprechungen Menschen geködert werden.
  • Bunkermentalität: Die Gruppe kapselt sich massiv ab („Innen der Himmel, außen die Hölle”). Es herrschen Verschwörungstheorien und Verfolgungswahn vor.
  • Es gibt keinen legitimen Grund, aus der Gruppe auszusteigen; deshalb werden Ehemalige zu Unpersonen erklärt („vogelfrei”, Kontaktabbruch), die mitunter erpreßt werden.
  • Kritiker werden eingeschüchtert und es wird versucht, sie mit Drohungen, öffentlichen Diffamierungen, Telefonterror, Gerichtsprozessen oder sogar körperlichen Attacken mundtot zu machen.

Die vorliegende Information ermöglicht eine differenzierte Beurteilung von Gruppierungen der Esoterik- und Sektenszene nach einer Reihe von objektiven Kriterien. Einzelne der aufgeführten Merkmale machen sicher noch keine konfliktträchtige oder gefährliche Gruppe aus, da man sie auch in anderen Vereinigungen findet. Gruppierungen sind umso problematischer, je mehr der kritischen Punkte auf sie zutreffen. Entsteht aus vielen vorhandenen Einzelmerkmalen ein Profil, kann man von einem Destruktiven Kult sprechen.

Herausgeber

Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V.
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Textautor

Dipl.-Psych. Werner Gross
Arbeitskreis „Religionspsychologie, Spiritualität und Psychomarkt“ im BDP
Sachverständiger der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages

Mit freundlicher Genehmigung von Werner Gross.

07. Juli 2009

Download

  • PDF-Datei des Faltblatts Was eine alternativ spirituelle Gruppe zum problematischen Kult macht - Checkliste für eine differenzierte Beurteilung der Esoterikszene und des Psychomarktes nach objektiven, psychologischen Kriterien.
  • PDF-Datei Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ - eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 9. Mai 1996 – Drucksache 13/4477.