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Die spirituelle Lehrer-Schüler-Beziehung

Dzongsar Jamyang Khyentse Rinpoche

Dzongsar Jamyang Khyentse Rinpoche

Dzongsar Jamyang Khyentse wurde 1961 in Bhutan geboren. Er ist ein Schüler von Khenpo Appey Rinpoche. Als Oberhaupt des angesehenen Dzongsar-Klosters und der Dzongsar-Mönchsschule ist er verantwortlich für das Wohl und die Erziehung von etwa 1.600 Mönchen, die in sechs verschiedenen Klöstern und Instituten in Asien leben.

Er leitet auch die Organisation „Siddharta’s Intent“, zu der sechs Lehr- und Praxiszentren rund um die Welt gehören, sowie zwei gemeinnützige Organisationen, die „Khyentse Foundation“ und „Lotus Outreach“.

Dzongsar Jamyang Khyentse beriet Bernardo Bertolucci für den Film „Little Buddha“. Sein Buch „Weshalb Sie (k)ein Buddhist sind“ ist in den USA ein Bestseller und erschien im September 2007 im Windpferd Verlag. Er schrieb das Drehbuch und führte die Regie zu zwei Spielfilmen: „Spiel der Götter“ und „Travellers and Magicians“. Mit Doris Wolter sprach er vor einiger Zeit über das Thema „Spirituelle Lehrer-Schüler-Beziehung“.

Buddhistische Meister könnten, wie es die langjährige Trungpa-Schülerin und Übersetzerin Francesca Fremantle einmal ausgedrückt hat, als „Heilige oder Halunken“ betrachtet werden. Was halten Sie davon? Gibt es diese beiden Extrempositionen wirklich?

Dzongsar Khyentse Rinpoche: Ja, die gibt es. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es zwei Personen braucht, um jemanden als Heiligen oder Satan, beziehungsweise als Schurken, zu betrachten: zum einen den Betrachter und zum anderen das Objekt, das man betrachtet oder über das man eine Entscheidung bzw. ein Urteil fällt.

Wir haben grundsätzlich die Tendenz, jemanden nicht nur zu betrachten, sondern sofort ein Urteil über ihn zu fällen – zum Beispiel, dass er ein Heiliger sei. Von dieser Entscheidung gehst du dann aus. Ohne zu bemerken, dass dies deine eigene Entscheidung, deine eigene Projektion ist, baust du dann diese Vorstellung noch aus, und meinst, es gäbe diesen heiligen Lehrer tatsächlich – und unabhängig von dir.

Das entsteht nicht unbedingt aus einer besonderen Hingabe, sondern aus deiner Angst, aus deiner Unsicherheit heraus – du suchst irgendwie Hilfe oder Schutz und rennst hierhin und dorthin, und sobald du jemanden entdeckst, der dich sehr inspiriert, entscheidest du auf der Stelle, dass er ein Heiliger ist. Das ist deine ureigenste Entscheidung. Und dann verhältst du dich ihm gegenüber entsprechend.

Dies ist ja nicht die einzige Erwartungshaltung in deinem Leben. Jede Minute ist voller Interpretationen, Erwartungen, oder Ängste. Heute hältst du diesen Menschen noch für einen Heiligen; doch wenn er deine Erwartungen nicht erfüllt bist du schon morgen entmutigt, enttäuscht und traurig. Dann prangerst du ihn an und machst dir selbst schreckliche Vorwürfe, dass du solch einen dummen Kontakt überhaupt aufgenommen hast. Würdest du an diesem Punkt wirklich erkennen, dass es letzten Endes und von Anfang an nur deine Projektion war, würde dir das helfen. Aber das ist meist nicht der Fall. Nur wenige kommen auf diese Idee. Stattdessen wird es noch schlimmer: Jetzt ist der Lehrer der Schuft – er bleibt immer noch ein äußerliches Objekt, obwohl das alles nur deine Entscheidung war – immer noch deine Projektion.

Im Westen lernt man, Autorität in Frage zu stellen und gegenüber jedem, der eine gewisse Machtposition innehat, kritisch zu sein. In gewisser Hinsicht haben wir anscheinend eine positive Sichtweise gegenüber Autorität verloren.

Dzongsar Khyentse Rinpoche: Tatsächlich sagte Buddha selbst: „Haltet meine Lehren nie für die Wahrheit, nur weil ich sie gelehrt habe. Ihr solltet sie stets untersuchen und überprüfen.“ Nun, ich denke, es gibt einen Unterschied zwischen dieser Art der Untersuchung und einer westlich-journalistischen Kritiksucht. Denn Kritik im Westen basiert häufig auf Eifersucht. Ich finde, echte Sympathie oder Mitgefühl zu haben, ist recht einfach. Du blickst auf jemanden hinunter, dem es scheusslich geht, und denkst: „Ach, der Ärmste! Wie niedlich, wie traurig! Ich muss ihm helfen.“ Das ist unglaublich einfach. Aber jemanden zu sehen, dem es gut geht, und sei es nur ein Pärchen, das sich umarmt, während du niemanden hast, der dich umarmt – das ist schon wesentlich schwieriger.

Das fällt uns so schwer – uns zu freuen, wenn es jemandem gut geht, wenn jemand berühmt wird, jemand reich wird, sich verliebt, endlich ein Problem löst. Wir freuen uns nicht darüber. Stattdessen sind wir eifersüchtig. Und mit dieser Eifersucht kommt die Tendenz, regelrecht nach Fehlern zu suchen. Du lässt keine Ruhe, bis du nicht Fehler gefunden hast. Und wenn du mit dieser kritischen Einstellung gegen Autorität rebellierst, ist das keine wahre Demokratie. Du wirst immer einen Fehler finden. Warum? Weil es deine Absicht ist, einen Fehler zu finden. Du wirst immer einen Fehler finden.

Und damit kommen wir zur ersten Frage zurück: das heißt nicht, dass es diesen Fehler tatsächlich gäbe. Du kannst deinen Fehler kreieren. Du schaffst dir einen Fehler und sagst: „Ah! Siehst du, hier stimmt etwas nicht!“ Es kann genauso gut alles deine eigene Einbildung sein, deine eigene Entscheidung. Stimmt’s?

Wenn du den Buddha-Dharma aber wirklich analytisch und kritisch untersuchen möchtest, solltest du nicht nur nach Fehlern suchen. „Lasst uns seine Schuld beweisen. Lasst uns beweisen, dass diese Lehren nicht funktionieren.“ Das ist nicht der Sinn der Sache. Du solltest stattdessen versuchen herauszufinden, welches der richtige Weg für dich ist. Mit dieser Einstellung solltest du dann kritisch sein, wirklich kritisch sein, anstatt nur diese eifersüchtige Haltung an den Tag zu legen.

In Zen-Erzählungen und einigen tibetischen Geschichten hören wir von Meistern, die ihre Schüler schlagen und beschimpfen oder von ihnen fordern, etwas völlig Unnötiges zu tun. Einige erlangten dadurch Erleuchtung, andere zogen gegen ihre früheren Lehrer vor Gericht. Man kann dies auf völlig unterschiedliche Art und Weise wahrnehmen. Gibt es hier irgendwelche Maßstäbe für richtiges oder falsches Verhalten? Wie können wir damit umgehen?

Dzongsar Khyentse Rinpoche: Das ist sehr schwierig. Du musst vorsichtig sein, bevor du jemanden zum Lehrer nimmst. Das ist der Zeitpunkt, an dem du dein Urteil sorgfältig abwägen solltest. Hast du dich aber für eine Person, für einen Lehrer entschieden …

Worum geht es uns? Wir wollen Erleuchtung erlangen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir unsere Emotionen überwinden, richtig? Was bedeutet das? Heißt das, dass wir unsere Emotionen beiseite schieben können, und dann irgendwohin gehen, zur Erleuchtung? Nein! Wir müssen mit den Emotionen arbeiten. Was meinen wir, wenn wir sagen „mit den Emotionen arbeiten“? Es bedeutet nicht, dass wir die Emotionen machen lassen, was sie wollen, und dann arbeiten. Nein. Wir müssen ihnen widersprechen. Manchmal müssen wir sie bestechen; manchmal müssen wir sie schelten. Um genau zu sein: wir müssen die Emotionen aufwirbeln. Wir müssen sie aufrühren, wie man Tee umrührt. Wir müssen sie in Bewegung bringen. Egal wie.

Vielleicht gehst du zu einem Lehrer und sagst: „Bitte, bringe meine Emotionen in Aufruhr!“ Denn genau das drückst du aus: „Ich möchte Erleuchtung erlangen, meine Emotionen überwinden. Lass mich also meine Emotionen erkennen - damit ich sie loswerde.“ Das sagst du doch, oder? Nun, der – oder diejenige kommt nun vielleicht und versucht, an deinen Emotionen zu rütteln – und ich glaube, viele von diesen Meistern besitzen noch einen solchen Heldenmut. Sie setzen dabei so viel au’s Spiel!

Angenommen, ich hätte ein Schülerin. Sie möchte vielleicht gern dies und jenes von mir hören. Aber was sie braucht, ist etwas ganz anderes. Dann muss ich meinen ganzen Mut zusammen nehmen, um ihr das zu sagen, was sie hören sollte, und nicht das, was sie hören will. Wieso brauche ich dazu Mut? Weil ich dadurch, dass ich ihr sage, was sie hören muss – und das ist vielleicht unangenehm – unsere ganze Beziehung aufs Spiel setze. Und vielleicht sehe ich sie danach nie wieder und weltlich gesehen, verliere ich eine Mitarbeiterin oder ich verliere eine gute Freundschaft.

Wenn du also jemandem erlaubst, deine Emotionen aufzuwirbeln – da kann wirklich viel passieren!

Das heißt noch lange nicht, dass alles, was irgendein Lehrer jemals tut, gerechtfertigt ist. Das kann ich auch nicht behaupten. Es hängt völlig von dir ab. Du möchtest Erleuchtung erlangen? Was brauchst du also? Du musst das Ego loswerden. Alles auf der Welt, was dein Ego verletzen könnte, wird als Feind betrachtet. Und ich kann dir nur eines verraten: Ein Meister, das Dharma und die Buddhas sind das Schlimmste, was dem Ego passieren kann. Wenn du wirklich glücklich sein möchtest auf der samsarischen Ebene, geh’ bloß nicht zum Dharma! Geh’ bloß nicht zum Buddha! Geh’ bloß nicht zu einem richtigen Lehrer! Vielleicht kannst du ein paar andere Lehrer haben, die dein Ego unterhalten. Fein, sei mein Gast! Wenn du aber ernsthaft Erleuchtung erlangen möchtest, dann vergiss’ es. Es funktioniert so nicht. Es widerspricht sich. Es ist sehr schwierig. Aber die Entscheidung liegt bei dir.

Wie kann ein Schüler den richtigen Lehrer finden? Und wie entscheidet der Lehrer, ob er den Schüler annimmt?

Dzongsar Khyentse Rinpoche: Auch das ist sehr schwierig. Ich glaube, ich kann nur wenig dazu sagen. Bevor ein Schüler sich sozusagen auf einen Lehrer einlässt, bevor er oder sie jemanden als Lehrer annimmt, sollte er ihn wirklich untersuchen – sagen wir ruhig mal fünf Jahre lang. Und dann könnte er oder sie vielleicht ein paar Mahayana-Belehrungen empfangen, ganz langsam. Und wenn du dann wirklich entschieden hast: „Okay, das ist der Richtige,“ dann kannst du vielleicht ein paar Einweihungen nehmen. Und selbst das heißt noch nicht, dass du keine Probleme haben wirst.

Einen Rat kann ich jedoch geben: Sei nicht ständig mit dem Lehrer zusammen. Nimm immer wieder Abstand. Zwei Menschen sollten sowieso nie ständig zusammen sein. Sie werden immer Fehler finden. Ein Hund und ein Mensch – das geht vielleicht noch. Sie lieben einander. Aber zwei Menschen … – je weniger Zeit sie miteinander verbringen, desto besser. Was du brauchst, sind die Lehren, die Anweisungen. Die erhältst du und gehst und praktizierst. Und wenn du etwas brauchst, gehst du nach sechs Monaten vielleicht wieder hin und bekommst, was nötig ist. Das ist alles, was du brauchst. Bleib’ nicht zu lange kleben. Ich glaube, so funktioniert es am besten. Das ist der beste Rat, den ich geben kann.

Was ist Hingabe? Wozu ist sie gut?

Dzongsar Khyentse Rinpoche: Unglücklicherweise brauchen wir Hingabe. Leider. Ich sage unglücklicherweise oder leider, weil Hingabe momentan irgendwie auf Erwartungen beruht. Darum sage ich „unglücklicherweise“. Aber wir brauchen Hingabe. Warum? Weil es ohne sie keinen Weg gibt. Hingabe ist wie Essen. Unglücklicherweise brauchen wir etwas zu essen. Stell dir vor, wir bräuchten nicht zu essen! Aber es gibt Essen und wir müssen es essen. Das ist eine ganz dumme Sache auf dieser Welt. Wenn wir nicht essen müssten, wieviele Probleme blieben uns erspart! Wir müssten nicht kochen, wir müssten nicht arbeiten gehen und so weiter. Um zu überleben, brauchen wir nun aber etwas zu essen. Was können wir also tun? Wir können besser kochen. Wir können besseres Essen kaufen. Ich glaube, wenn man versteht wie, kann man mit Hingabe richtig umgehen. Aber wie gesagt, oft beruht Hingabe auf Erwartungen, und dann liegt eine gewisse Blindheit darin.

Wie können wir dann echte Hingabe entwickeln?

Dzongsar Khyentse Rinpoche: Ich denke, es sollte immer Weisheit oder Intelligenz dabei sein; man sollte die Dinge genau analysieren. Darum meine ich auch, es ist höchste Zeit, dass im Westen wirklich studiert wird. Meine eigene Erfahrung zeigt … – ich habe die buddhistische Philosophie viele, viele Jahre lang studiert. Und ich habe intellektuell gesehen vollständiges Vertrauen in die Lehren des Buddha. Ich denke, es gibt keine bessere Philosophie als die des Mittleren Weges. Das weiß ich. Der Pfad ist unfehlbar, er macht Sinn, er ist logisch, all das. Wenn sich mein Lehrer nun etwas eigenartig benehmen würde und ich das Vertrauen zu ihm verlöre, hätte ich immer noch ein zweites Standbein, etwas, woran ich mich orientieren kann.

Im Westen kommen die meisten nun aber, weil sie von der Person inspiriert sind, nicht von den Lehren, nicht vom Pfad. Weil sie den Pfad nicht studiert haben. Der einzige Grund, warum sie kommen und gehen, ist diese Person – weil sie gut handelt oder gut aussieht. Aber wie sehr kannst du dich darauf verlassen, dass das für immer so bleibt? Eines Tages kann eine kleine „Missetat“ all deine Hingabe zum Zusammenbruch bringen. Dann hast du kein zweites Standbein. Darum glaube ich, dass es im Westen sehr wichtig ist, den Dharma mehr zu studieren. Zumindest hast du dann ein weiteres Standbein. Und sie können sich gegenseitig stützen, wenn du den echten Wert der Lehren kennst.

Noch eine Frage: Wie eng muss das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler sein, um wirksam zu sein, und können wir uns immer auf unsere Intuition verlassen, ob wir näher kommen sollten oder nicht?

Dzongsar Khyentse Rinpoche: Ja, Intuition ist ganz gut. Ich verlasse mich immer auf meine Intuition.

© Doris Wolter. Mit freundlicher Genehmigung von Doris Wolter.

Das Interview ist erstmals in etwas ausführlicher Version im „Rigpa Rundbrief“, Berlin erschienen. Abdruck der gekürzten Version mit Genehmigung der Autorin. Weitere Infos über den Autor und seine Aktivitäten finden Sie über www.siddharthasintent.de.

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