Sich enthalten von falscher Rede (musavada veramani) – Bhikkhu Bodhi
„Da hat einer das Lügen verworfen, vom Lügen steht er ab. Die Wahrheit spricht er, ist der Wahrheit ergeben, an der Wahrheit hält er fest, ist vertrauenswürdig, betrügt die Menschen nicht. Kommt er nun in eine Gesellschaft von Leuten oder unter Männer oder Verwandte oder in eine Körperschaft oder er wird vor Gericht geladen und als Zeuge aufgefordert auszusagen, was er wisse, so antwortet er, wenn er nichts weiß: ‚Ich weiß nichts‘; und wenn er weiß, sagt er: ‚Ich weiß‘. Hat er nichts gesehen, so sagt er: ‚Ich habe nichts gesehen‘; hat er aber etwas gesehen, so sagt er: ‚Ich habe etwas gesehen‘. So spricht er weder um seiner selbst willen noch um eines anderen willen noch um irgend eines weltlichen Vorteiles willen jemals eine bewußte Lüge.“ (A X/176)
Dieser Ausspruch des Buddha offenbart sowohl die positive als auch die negative Seite dieser Tugendregel. Die negative Seite besteht darin, sich der Lüge zu enthalten, die positive darin, die Wahrheit auszusprechen. Entscheidend für die Verletzung der Regel ist der Vorsatz, zu betrügen. Sagt jemand etwas Unwahres im Glauben, daß es wahr sei, bleibt die Regel ungebrochen, da der Wille zu betrügen nicht vorliegt. Gedanken in betrügerischer oder lügnerischer Absicht liegen jeder falschen Rede zugrunde, aber sie kommen in den unterschiedlichsten Gewändern daher, je nachdem ob sie ihre Wurzel in der Gier, der Aversion oder der Verblendung haben. Die Gier ist das Hauptmotiv und führt zu Lügen, mit deren Hilfe ein persönlicher Vorteil für den Lügner selbst oder eine ihm nahestehende Person erreicht werden soll: materieller Wohlstand, gesellschaftlicher Rang, Ansehen oder Bewunderung. Liegt ihr die Aversion zugrunde, nimmt die Lüge die Gestalt der Boshaftigkeit an und zielt darauf ab, andere zu verletzen und ihnen Schaden zuzufügen. Ist das Motiv einer Lüge die Verblendung, wird das Ergebnis weniger bösartig sein: irrationale, gewohnheitsbedingte Lügen, interessante Übertreibungen, Lügen nur zum Spaß.
Die strenge Haltung des Buddha der Lüge gegenüber hat mehrere Gründe: Die Lüge zerstört soziale Bindungen, denn das Zusammenleben in einer Gesellschaft funktioniert nur in einem Klima wechselseitigen Vertrauens, man muß in dem begründeten Glauben leben können, daß der Andere die Wahrheit sagt. Indem die Vertrauensbasis zerstört und allseitiges Mißtrauen die Oberhand gewinnt, wird die Normalität der Lüge zum Sendboten des Verfalls sozialer Solidarität und des um sich greifenden Chaos. Die Lüge hat eine weitere zerstörerische Folge tief persönlicher Natur, denn sie hat die charakteristische Eigenschaft, sich selbst zu befruchten. Man lügt, traut seiner Aussage nicht und glaubt wieder lügen zu müssen, um seine Glaubwürdigkeit aufrechterhalten zu können und um ein stimmiges Bild der Ereignisse geben zu können. So beginnt der Prozeß von vorne: die Lügen werden größer, vervielfältigen sich, verknüpfen sich, bis man in ein Netz von Unwahrheiten verstrickt ist, aus dem man sich nur schwer wieder befreien kann. Auf diese Weise stellt die Lüge ein Miniatur-Gleichnis subjektiver Illusion dar. In jedem Fall findet sich ihr so selbstsicherer Schöpfer im Sog seiner Befleckungen am Ende in der Rolle des Opfers wieder.
Solche Überlegungen liegen wahrscheinlich den Worten zugrunde, die der Buddha seinem Sohn, den jungen Novizen Rāhula, kurz nach dessen Ordination als Rat gab. Eines Tages trat der Buddha zu Rāhula, zeigte auf eine Schüssel mit einem kleinen Rest Wasser darin und sagte: „Rāhula, siehst du das bißchen Wasser, das noch in der Schüssel ist?“ Rāhula antwortete: „Ja, Herr.“ – „So gering, Rāhula, ist die spirituelle Errungenschaft (sāmanna, wörtlich „Einsiedlertum“) eines Menschen, der sich nicht scheut, bewußt zu lügen.“ Daraufhin goss der Buddha das Wasser aus, stellte die Schüssel zurück und sagte: „Hast du gesehen, Rāhula, wie dieses Wasser verschüttet wurde? Genauso verschüttet jemand durch eine bewußte Lüge alle spirituelle Errungenschaft, die er je erlangt hat.“ Weiter fragte er: „Siehst du, daß diese Schüssel nun leer ist? Genauso leer von spiritueller Errungenschaft ist der, der ohne Scham bewußt lügt.“ Dann drehte der Buddha die Schüssel mit dem Boden nach oben und sagte: „Siehst du, Rāhula, wie diese Schüssel auf dem Kopf steht? Genauso geht es jemandem, der bewußt lügt. Seine spirituelle Errungenschaft steht Kopf und er ist unfähig, sich weiter zu entwickeln.“ Deshalb, so schloß der Buddha, sollte niemand bewußt lügen, und sei es auch nur zum Spaß. (M 61)
Man sagt, daß ein Bodhisattva auf seinem Weg zum Erwachen, im Verlaufe der langwierigen und über viele Leben sich erstreckenden Übungen, jedes moralische Prinzip brechen kann, mit Ausnahme des Gelöbnisses der Wahrhaftigkeit. Der Grund hierfür ist von tiefer Bedeutung und führt uns vor Augen, daß das Bekenntnis zur Wahrhaftigkeit von einer Wichtigkeit ist, die über die Ebenen der Ethik und sogar der geistigen Reinigung hinausgeht und bis auf die Ebene des Wissens und des Seins führt. Auf der Ebene der zwischenmenschlichen Kommunikation, sorgt die wahre Rede für einen Bezug zur Weisheit, der bis in die Sphäre des eigenen Verstehens reicht. Beide sind äußere und innere Ausdrucksformen des einen Bekenntnisses zur Wirklichkeit. Weisheit besteht aus dem Erkennen der Wahrheit (sacca), und Wahrheit ist nicht einfach ein verbales Problem, sondern sie ist das Wesen der Dinge, so wie sie sind. Um die Wahrheit zu erfahren, müssen wir unser Leben in Einklang mit den Tatsachen bringen. Das bedeutet, daß wir im Umgang mit anderen den wahren Charakter der Dinge akzeptieren, indem wir die Wahrheit sagen. Die Wahrhaftigkeit der Rede läßt sine Wechselwirkung zwischen unserem Inneren und der Natur der Dinge entstehen, aus der die Weisheit erwächst, mit der wir deren Wesen ergründen können. Auf diese Weise, mehr als durch irgendein ethisches Prinzip, können wir durch das Bekenntnis zur Wahrhaftigkeit das Erkennen der Realität von allen Trugbildern trennen und die Wahrheit, aus der Sicht der Weisheit, von den Wunschgebilden des Begehrens.