Die Zentrale Person eines »Kultes«

Anmerkungen zum »Kultführer«

Ein Betroffener¹ schrieb in einem Email:

„Du sprichst ja bereits an, dass auch die zentrale Person eines solchen Kults ein Opfer ist. (Ich denke, es gibt vielleicht auch Sekten, die wirklich aus Berechnung geplant und bewusst organisiert sind, aber das wird wohl eher selten sein.)

Was als Ergänzung vielleicht noch gut wäre ist folgender Gedanke:
Selbst die zentrale Figur kann davon überzeugt sein, dass sie etwas ‚Gutes‘ und ‚Richtiges‘ tut. Sie kann echten Enthusiasmus und Aufopferungsbereitschaft einbringen. Es mag sein, dass eine solche Motivation bei jemandem, der seine Macht missbraucht und andere manipuliert instabil ist und vielleicht nicht immer bist zum tiefsten Grund reicht. Aber niemand kann es wirklich gut ertragen, sich selbst als eine schlechte Person zu betrachten. Schon vor diesem Hintergrund ist der Antrieb sicher auch für Führungspersonen sehr groß, sich selbst einzureden, dass alles in Wirklichkeit gut und richtig ist. Und auch diese Personen wollen am liebsten selbst an das glauben, was sie tun.

Das war wirklich ein Punkt, der mir zu schaffen gemacht hat. Ich bin ständig hin und her gependelt zwischen dem Gefühl, dass etwas nicht stimmt und dem Gedanken, dass es doch aber alle eigentlich gut meinen. Wenn man in eine so stark polarisierte Welt eintaucht, ist es eben schwer, die Grauzonen anzuerkennen. Man schnipst zwischen Weiß und Schwarz hin und her, ohne dass die Widersprüche, die man dabei erlebt, in Einklang zu bringen sind.

Wenn man anfängt, gut und schlecht als scharf abgegrenzte Dinge in der Welt zu sehen, dann kommt man einfach nicht mehr zurecht. Vielleicht ist das auch ein wichtiger Punkt, dass man erstmal wieder lernen muss, einfach realistisch hinzuschauen. Das Leben ist eben voller Gegensätze.

Noch ein Thema, was vielleicht wichtig wäre ist das Thema ‚Verantwortung‘. Wenn jemand sich gern irgendwo einbringen will und vielleicht zum Helfersyndrom tendiert, dann ist es sehr leicht, ihn in eine Sache rein zu ziehen. Mann braucht ihm nur ein paar Möglichkeiten zu geben, wo er helfen kann. Dann gibt man ihm eine Aufgabe, die Aufgabe wird zur Verantwortung. An die Aufgabe bindet man einen höheren Status, der mit Macht und Prestige verbunden sein kann. Mit der Verantwortung – empfunden aber tatsächlich muss derjenige aber selbst klarkommen, wenn es Probleme gibt, sind es nicht die der Gruppe, sondern seine ganz persönlichen. Es ist wirklich leicht, auf diese Weise Leute ‚einzubauen‘ und die entstehenden Schuldgefühle und Versagensängste tun dann ihr übriges, um denjenigen in der Gruppe fest zu zementieren.

Das muss ja nicht mal aus Berechnung passieren, dass jemand in eine solche Situation gerät. Aber gerade die Mischung aus einem gehobenen ‚Status‘ einerseits und Versagensängsten plus Druck andererseits ist denke ich schon ein wichtiges Merkmal. Da kann einem immer jemand sagen: ‚gerade JETZT willst Du Dich um DEINE Angelegenheiten kümmern? Kommt Dir das gar nicht verantwortungslos vor? Was gibst Du denn für ein Beispiel? und so weiter‘.

Diese Punkte sind mir einfach noch eingefallen. Eigentlich klingen sie ja schon bei Dir an.

Ich war ehrlich gesagt schon etwas überrascht, dass die Grundstrukturen so klar zwischen verschiedenen ungesunden Gruppen überein zu stimmen scheinen. Aber die Menschen sind halt überall die gleichen.

Was ich auch noch dachte, vielleicht kann man ja auch ein paar Dinge kurz erklären, die im Buddhistischen Kontext von Westlern leicht missverstanden werden … weitere Kandidaten könnten z.B ‚Reinheit‘/‚reine Sicht‘ sein,  was sich ja eher auf Buddhanatur und Leerheit bezieht – wir sind eben nicht von Natur aus schmutzig, sondern haben alle guten Potenziale in uns und in einem wirklichen Meister kann man erkennen, auf welch wunderbare Weise sich diese Potenziale entfalten können. Schon allein, wenn die Leute verstehen, dass man letztlich die Reinheit des Guru in sich selbst erkennen muss, sind bestimmte Formen der ‚Hingabe‘ schon gar nicht mehr möglich. (Lama Ösel soll als kleines Kind zu einer westlichen Schülerin mehrmals bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt haben: ‚Ich bin Du und Du bist Lama …‘  Ich finde das ungeheuer bemerkenswert.)

Ein zweiter Punkt ist Entsagung, was ja vor allem mit Abkehr von Leid und Verwirrung zu tun hat und nicht so sehr damit, dass alle Menschen, die man bisher kannte ausschließlich einen miesen und schädlichen Einfluss auf einen hätten, oder dass man sich nicht mehr um seine Gesundheit kümmern sollte usw. Natürlich ist Entsagung eine ‚ernste‘ Sache. Das Leben ist eben nicht leicht und eigentlich ist es nicht schön. Aber im Westen kommt halt leicht so eine selbst-zerstörerische Büßermentalität dazu, wenn von ‚Entsagung‘ die Rede ist. Das hat dann vielleicht eher was mit geringem Selbstwertgefühl zu tun (‚Ich habe nichts Gutes verdient‘) und nicht mit dem Wunsch und dem Streben nach Freiheit und stabilem Glück.“

¹ Mit freundlicher Erlaubnis des Betroffenen

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