Kulturelle Missverständnisse
Kultpersönlichkeit und unpersönliches Ideal - eine Quelle interkultureller Missverständnisse von Dr. Cornelia Weishaar-Günter
Stellen Sie sich vor, Sie haben den Dalai Lama getroffen – vielleicht sind Sie geneigt, eine Reportage zu schreiben. Seine Hobbys, seine Ansichten zu jeder Kleinigkeit, seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen, negative wie positive Züge seiner großen Persönlichkeit werden Sie versuchen, ihrer interessierten Leserschaft einfühlsam näher zu bringen, sie quasi in sein Wohnzimmer, seinen Freundeskreis einzuführen; am liebsten würden Sie sogar das Unmögliche versuchen und den Leser an den kleinsten inneren Gefühlsregungen des Dalai Lama teilhaben lassen. Ganz in diesen Gedanken versunken kehren Sie zu Ihren tibetischen Freunden zurück und erzählen ihnen all die Beobachtungen, von denen Sie schreiben wollen. Wer könnte mehr Interesse an diesen Ausführungen haben als die Tibeter selbst, die überall das Bild des Dalai Lama auf dem Altar verehren und weite Reisen unternehmen, um ihn wenigstens einmal im Leben zu sehen?
Asiatische Höflichkeit wird wohl verhindern, dass man Ihnen ins Gesicht sagt, was man von Ihren Berichten hält. Was für Sie ein höchster Tribut an Aufmerksamkeit und Achtung gegenüber einer großen Persönlichkeit ist, wird bei traditionellen Tibetern als extreme Respektlosigkeit ankommen. Es wird den Tibetern fast peinlich sein, Ihnen zuzuhören, und Sie werden es nicht merken.
An diesem einen Punkt hat sich eine grundsätzlich andere Einstellung gegenüber der Rolle der Persönlichkeit in einer buddhistischen Kultur und in unserer modernen westlichen Kultur niedergeschlagen. Ein Unterschied, der sich bei genauerem Hinsehen auf Schritt und Tritt zeigt und sehr tiefe Wurzeln hat.
Bei uns: Die Verehrung der Persönlichkeit
Die Demut gegenüber dem Schöpfergott als der allmächtigen, perfekten Person wurde bei uns seit der Renaissance durch die Selbstdarstellung des Menschen abgelöst, der als Individuum mit all seinen Fehlern und seiner persönlichen Tragik zumindest durch sein originelles Schaffen als bescheidenes Ebenbild Gottes der Welt sein Zeichen aufzudrücken bestrebt ist. Unsere Idole sollen als Künstler Nie-Dagewesenes kreieren, als Politiker die Welt verändern, als Philosophen neue Theorien aufstellen usw. Dafür huldigt ihnen die Welt mit einer Art von Persönlichkeitskult: Man sammelt Autogramme, hängt Poster auf, schreibt Biographien; individuelle Ticks und sogar offenkundige Fehler werden als sympathisch-menschlicher Zug gleich mitverehrt. Aus unserer Sicht bricht dem Dalai Lama kein Zacken aus der Krone, wenn man über irgendeine seiner menschlichen Schwächen liebevoll-einfühlsam berichtet – im Gegenteil, er kommt unserem Herzen dadurch nur näher.
In Tibet: Persönlichkeit als begrenzendes Gewohnheitsmuster
Ganz anders im buddhistischen Umfeld. Nicht ein persönlicher Schöpfergott ist das implizite Ideal, dem der Mensch in tragischer Unvollkommenheit nachstrebt, sondern das real mögliche Ziel der Buddhaschaft und damit ein Zustand, in dem alle möglichen Fehler überwunden und alle möglichen Qualitäten von Wissen, Liebe und Fähigkeit erreicht sind. Vor diesem Hintergrund erscheint eine reale Persönlichkeit nur als Begrenzung und Schwäche, ist sie doch das Resultat von Gewohnheiten und geistigen Prägungen, teilweise über viele Existenzen ererbt (Karma).
Mit der Buddhaschaft wird gerade die Freiheit von Festlegungen und Zwängen dieser Art angestrebt; anstelle der Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit wird versucht, die angeborenen Grenzen der Person zu sprengen und das innere Potential in all seinen Aspekten zur vollen Entfaltung zu bringen.
Deshalb ist es ganz und gar nicht schmeichelhaft für einen buddhistischen Lehrer, würde man ihm eine feste Persönlichkeit zuschreiben. Der Dalai Lama auf dem Altar interessiert nicht als Individuum und Mensch, sondern als Verkörperung des höchsten Ideals; wenn er jemals Persönlichkeitsgrenzen zu zeigen scheint, gilt die Wahrnehmung davon stets nur als eine Reflektion im Geist seines jeweiligen Gegenüber – ein Zeichen der Fähigkeit des Lehrers, in seiner Güte all die begrenzten Erscheinungen zu manifestieren, die einem Lebewesen auf dem Weg weiterhelfen. Im Geist eines anderen Schülers wird er jederzeit als das Gegenteil erscheinen können; so wie man die absolute Realität niemals durch Konzepte konkret zu fassen bekommt, steht es mit der Persönlichkeit eines hohen Bodhisattvas: Als bloßer Erscheinung frei von jeder Fixierbarkeit kommt ihr keine Bedeutung zu.
Die Literatur und Kunst im Dienst des höchsten Ideals
Eine andere Auswirkung dieser Skepsis gegenüber dem Wert von Persönlichkeit besteht im völligen Fehlen von Romanliteratur in Tibet. Bei uns zeigen die Romane das ganze Spektrum von Gefühlen, psychologischen Schwierigkeiten und so weiter. Sie helfen uns, Persönliches besser verstehen zu lernen und gehören unbedingt zur humanistischen Bildung des Einzelnen in der Schule.
Tibeter jedoch argumentieren, dass eine Lektüre, bei der es nur um menschliche Schwächen und Verwicklungen innerhalb des Daseinskreislaufes geht, eine wertlose Zeitverschwendung bildet.
Selbst das Gesar-Epos, so manchem strengen Lama schon allzu weltlich, hatte nur zum Ziel, das Ideal des Bodhisattva zu besingen und beinhaltet dementsprechend nur typisierte Lehrcharaktere. Aus der biographischen Literatur Tibets sind die erzählerischen Lebensgeschichten von Naropa, Marpa und Milarepa besonders bekannt geworden. Sie bilden die wohl in unserem Sinn „menschlichste“ Literatur Tibets, geschrieben im 15/16. Jahrhundert von Tsang-Nyön Heruka und seinem Schüler im revolutionären Bestreben, der damals drohenden Verknöcherung des religiösen Systems durch literarisch-anschauliche Lehr-Heiligengeschichten entgegenzuwirken. Sie finden im Übrigen kaum ihresgleichen. Die typische Biographie eines Lamas ist streng formalisiert und betont, dass das jeweilige „Große Wesen“ genau im üblichen Sinn für den Buddhismus gewirkt hat: Durch Studium, Klausuren, Unterweisungen, Bau von Klöstern etc. Die Individualität beschränkt sich auf Jahreszahlen, Ortsangaben und Namen von verschiedenen Überlieferungslinien sowie einige wenige Anekdoten, die. zumeist mit der geschickten Unterweisung des einen oder anderen Schülers zusammenhängen. Originalität ist sehr suspekt – denn wenn Buddhaschaft die Entfaltung aller überhaupt menschenmöglichen Qualitäten bedeutet, kann die Lehre Buddhas nicht mehr übertroffen werden.
Und so betonen alle tibetischen Autoren eifrig, dass sie auch ganz bestimmt nichts Neues geschrieben, sondern nur versucht haben, verstreute Informationen großer, meist indischer Meister der Vergangenheit zusammenzutragen, um es ihren Schülern einfacher zu machen; oder aber sie beziehen sich auf besondere Autoritäten – etwa auf die des „zweiten Buddha“ Padmasambhava, der „Schatztexte“ (gter-ma) für spätere Zeiten verstecken ließ, oder auch auf besondere Unterweisungen, die aus Visionen stammen und die Autorität einer Meditationsgottheit tragen.
Was nimmt es im allgemeinen geistigen Klima in Tibet wunder, dass die Echtheit bestimmter „Schatztexte“ oder Visionen in allen Schulrichtungen heiß debattiert wurde! Eines bleibt jedoch sicher ganz bestimmt würde kein Autor Eigenschöpfungen als solche ausgeben wollen.
Genauso interessierten in der darstellenden Kunst nur die ewig gleichen Motive: Gottheiten, Lamas, Lehrgeschichten. Es gab regionale Stilrichtungen, aber niemals hatte der Künstler ein anderes Ziel, als genauso wie seine Vorgänger die Betrachter zur Buddhaschaft zu inspirieren. Niemals ging es um Originalität in der Darstellung oder gar um die Suche nach neuen Motiven. Das genaue Gegenteil unserer westlichen Kultur, in der seit Jahrhunderten jeder um jeden Preis etwas Neues und Einmaliges begründen und seine Individualität darstellen will!
Wo bleiben die Gefühle?
Persönliche Gefühle und Erfahrungen spielen im Westen jedoch nicht nur in Literatur und Kunst eine große Rolle, sie bestimmen einen Großteil unserer Alltagskonversation. Wie einsam fühlen wir uns, wenn wir diesen Teil unseres Selbst nicht mit Partner und Freunden in aller Offenheit teilen dürfen. Und doch – auch nur der Versuch, eine solche Konversation ins Tibetische zu übersetzen, ist hoffnungslos.
Mit meiner tibetischen Lehrerin konnte ich nur auf Deutsch Gedanken dieser Art austauschen: „Wenn ich so auf Tibetisch mit dir reden würde, es wäre lächerlich – in unserer Sprache gibt es keine adäquaten Worte!“...
Als westliche Menschen denken wir leicht, dass die Tibeter krank werden müssten, wenn sie ihre Gefühle niemals so richtig teilen und in diesem hohen Maß herunterschlucken. Sie werden es nicht – und vielleicht liegt die Antwort gerade darin, dass sie sich als Person und Individuum nie so stark betont und wichtig genommen haben wie wir. Mein Eindruck ist, dass das eigene Leben viel selbstverständlicher verläuft als bei uns. Liebevolle Akzeptanz durch die Familie und die Gruppe, der man zugehört, fällt einem ohne besondere Leistung zu, und wenn man sein Augenmerk nie auf psychische Schwankungen gelenkt hat, verlaufen sie vermutlich auch weniger heftig.
Abgöttlich ist nur der westliche Buddhist
Und nun denken Sie noch einen Schritt weiter: Sie haben während Ihres Besuchs bei Ihren tibetischen Freunden nicht nur den Dalai Lama unpassend beschrieben, sich mit Ihrem Originalitätsstreben unbeliebt gemacht und sich mit Ihren sensiblen Gefühlsanalysen den Ruf der Verrücktheit eingetragen, zu allem Überfluss sind Sie nun auch noch selbst Buddhist geworden und müssen lernen, sich in der buddhistischen Umgebung richtig zu bewegen.
Sie sehen, wie die Laien den Ordinierten und die ordensmäßig jüngeren den älteren bei jeder Gelegenheit Respekt erweisen. Sie sehen, wie jeder Lama ohne weiteres sofort um Segen gebeten wird. Nun gibt es zwei Reaktionsmöglichkeiten für Sie: Entweder Sie empfinden große Abneigung vor dem, was Sie als „Lamaismus“, Menschenverehrung und Degeneration des reinen Buddhismus sehen. Oder aber Sie setzen ganz naiv auf die große transformierende Kraft des Buddhismus und folgen dem Beispiel. Nur mit einem Unterschied zu den Tibetern: Ihr Respekt gilt der angeblich auf dem Weg fortgeschrittenen Person, und damit ist die Krise vorprogrammiert, denn früher oder später können Sie die Augen vor den persönlichen Fehlern Ihrer Verehrungsobjekte nicht mehr verschließen. Aber soll man nicht den persönlichen Lehrer wählen? Die auf die Person geprägte Verehrung des westlichen Menschen findet hier einen Anker, der vielleicht nicht ganz so schnell enttäuscht wird wie eine generalisierte Verehrung aller Mönche und Nonnen. Daraus bildet sich nur zu oft ein trauriges Amalgam von westlichem Persönlichkeitskult, östlichen Umgangsformen und politischen Interessen einer Art Fußballfanclub, abgöttisch gruppiert um einen Lama und im Wettstreit mit den Clubs „schlechterer“ Lamas – ein pervertierter Abklatsch des tibetischen Buddhismus.
Erinnern wir uns abschließend noch einmal daran, was ein tibetischer Buddhist in all diesen Formen wirklich verehrt: Keinesfalls die Person, sondern ausschließlich den symbolischen Gehalt, der in der religiösen Kleidung oder – beim Lama – in der bloßen Weitergabe religiöser Überlieferung liegt. Diese Verehrung hält die Werte des Buddhismus in Geist und Gesellschaft ständig wach und ist insofern eine mehr als legitime Form der Praxis, ja selbst dann ein Beitrag zum Frieden in der Welt, wenn der Lama selbst seine eigenen politischen Interessen verfolgt. Seine Person spielt keine Rolle.
Zur Autorin
Dr. Cornelia Weishaar-Günter: Studium und Praxis des Buddhismus seit 1976 bei Lehrern der Kagyu-, Sakya- und Gelug-Schulrichtungen. Lehrbeauftragte für Tibetisch an der Universität Erlangen-Nürnberg.