Khandro Rinpoche schrieb hier über gesunden Menschenverstand, sexuellen Missbrauch und vermeintliche Abkürzungen zur Erleuchtung. Die nachfolgende Email ist die Erwiederung einer Betroffenen auf die gemachte Behauptung, man könne sexuellen Missbrauch mit dem „gesunden Menschverstand“ abwehren.

Lieber Tenzin Peljor,

Zunächst einmal möchte ich mich für Ihre Seite bedanken, die mir in einer kritischen Phase geholfen hat klarer zu sehen.

Anlass Ihnen zu schreiben ist nun allerdings für mich der Artikel von Khandro Rinpoche, den ich gerade – und wiederholt gelesen habe.

Ich möchte Ihnen kurz dalassen, was diese Aussagen in mir auslösen und warum ich meine, dass so etwas nichts auf einer Seite zu suchen haben sollte, die unter anderem für die Opfer von sexuellem Missbrauch im spirituellen Kontext gedacht ist. Ich bin mir sehr sicher, dass die Dame nicht das Pech hatte selbst in eine solche missbräuchliche Lage geraten zu sein, ansonsten würde sie diesen Text nicht so schreiben.

Die Dame wendet sich an den gesunden Menschenverstand der den Opfern also abhandengekommen sei. Ich bin Opfer sexuellen Missbrauchs geworden. Ich wurde auf eine solch perfide Art manipuliert, dass ich zu Handlungen gebracht wurde, die ich mit keiner Faser meines Seins wollte und trotzdem konnte ich mich nicht wehren. Warum? Tja, leider ist das eben nicht so einfach zu beantworten. Mein ‚gesunder Menschenverstand‘ hat damals alles getan, sich die Situation ‚logisch‘ zu erklären (da kommen dann so Sachen, wie: In den Alten Geschichten mussten sie auch alle Opfer bringen …) – Jeder Versuch Nein! zu sagen – und ich habe es versucht – wurde abgeschmettert. Man ist damit ganz alleine. Wirklich ganz alleine. Weil man es nicht verstehen kann, verdrängt es die Psyche, macht es einfach weg oder findet Ausreden, logische Zusammenhänge in denen es Sinn macht. Man darf es nicht sehen: Warum nicht? Weil man in etwas verwickelt wurde, was man nicht wollte – und weil bei vollem Eingeständnis genau das droht, was Frau Khandro Rinpoche so unbedarft schreibt: Man fühlt sich dumm, naiv – mit einem Wort: Selbst Schuld! Das ist dann die zweite Stufe der Missbrauchsdynamik: Erkannt, dass es falsch war, damit erkennt man auch, was man mit sich ‚hatt machen lassen‘.

In jeder Therapie lernt man als allererstes: Du hast keine Schuld! Und das ist so unendlich wichtig. Warum greift das auch in einem Meister-Schüler Verhältnis: Es sind doch beide erwachsen? Oder? Die Antwort ist: Es gibt ein Machtgefälle. Das ist vorhanden und das kann nicht wegerklärt werden. Das zeigt sich schon in der Bezeichnung Meister-Schüler. Es wird erwartet das man sich hingibt. Tut man das ist man anfällig. Schlimmer noch – und ich bin mir sicher, dass das sehr sehr häufig der Fall ist – wenn man schon frühere Erfahrungen mit Missbrauch und Grenzüberschreitung gemacht hat. Dann spürt man es nicht. Dann weiß man nicht, was richtig ist, ob man selbst und die eigenen Gefühle richtig sind. Und auch das ist nicht gegen den ‚gesunden Menschenverstand‘ – es zeigt nur, dass das, was gesund ist, anscheinend erst erlernt werden muss. Und hier setzt die große Verantwortung eines spirituellen Lehrers ein, um solche Zusammenhänge zu wissen und sie nicht auszunutzen.

Es macht mich traurig und betroffen solche Texte zu lesen, die Frauen anscheinend – implizit oder explizit – eine Mitschuld an einer Vergewaltigung oder Nötigung geben. Ich denke es ist enorm wichtig, vorsichtig mit solchen Aussagen zu sein, denn sie verletzen massiv und tragen zudem dazu bei, dass weiter um solche Dinge geschwiegen wird – denn seien wir mal ehrlich: Wer will denn gerne zugeben, dass er so ‚naiv‘ war, sich nackt auszuziehen und sich ‚vergewaltigen zu lassen‘? Meine Anerkennung gilt dieser Frau, die die Stärke hat zu so etwas zu stehen!

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute,
Herzliche Grüße,
Anonym

Veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis der Verfasserin. Ein ausführlicher Artikel zu diesem Thema wird voraussichtlich zu einem späteren Zeitpunkt folgen.