Gedanken zum Gruppenleiter einer ›Sekte‹, zu Aussteigern und Außenstehenden  

Neben den bereits in der Einleitung angerissenen destruktiven Eigenschaften, die ein ›erfolgreicher Sektenführer‹ haben kann, findet sich häufig auch der Glaube, über dem Gesetz und über den Regeln ethischen Verhaltens zu stehen. Deshalb findet man in solchen Gruppen mit Sektenstrukturen ein großes Maß an Doppelmoral.

Nach außen wird der Schein perfekter Harmonie, Glück und einem Leben in höheren ethischen Prinzipen vermittelt. Bei öffentlichen Vorträgen wird eloquent darüber referiert—häufig hat das ganze einen gewissen Showeffekt: »Vorhang auf, der Meister kommt!«. Intern wird aber willkürlich, unethisch und zum eigenen Vorteil gehandelt.

Der ›Sektenführer‹ oder die ›Sektenführerin‹ bedient sich am Geld des Vereins, zweckentfremdet Spendengelder oder eignet sie sich privat an—der Kassenwart wird schon eine Lösung dafür finden. Bewusst wird der Staat um Steuern betrogen—z.B. bei der Einfuhr von Devotionalien, die dann an Gläubige mit hohem Gewinn verkauft werden. Dem zweifelnden Anhänger wird eine passende Pseudobegründung gegeben, z.B. »mit dem Geld würde der Staat doch sowieso nur Bomben herstellen und Kriege führen« oder »der Staat gibt das Geld doch sowieso nur für weltliche (unbedeutende) Dinge aus« etc. (Die Pseudobegründung entspricht ganz dem in der Gruppe vermittelten Glaubenssystem und wahrscheinlich auch der geistigen Neigung des zweifelnden Anhängers, einem Pazifisten wird der ›Sektenführer‹ eine andere Begründung geben als einem Tierfreund.)

Der ›Sektenführer‹, überzeugt von er eigenen Grandiosität, vermittelt direkt oder indirekt seinen Anhängern er oder sie wäre erleuchtet, hätte übernatürliche Fähigkeiten, wie Hellsicht Heil- oder Wunderkräfte. Um den Eindruck des Besitzes übernatürlicher Kräfte, wie z.B. Hellsicht, beim Schüler zu stärken, enthüllt er vor einem Schüler Wissen über ihn, das er aus dessen Sicht gar nicht wissen kann. In Wirklichkeit hat der ›Sektenführer‹ dieses Wissen aber über ein internes ›Spionagesystem‹ erworben, in dem seine engsten Schüler die ihnen anvertrauten Informationen an den ›Meister‹—zum Wohle des anderen—weitergeben. Ebenso kann man Heilgeschichten und andere Dinge finden, die den Besitz übernatürlicher Kräfte für die Anhänger beweisen sollen. Der Glaube der Anhänger an die übernatürlichen Kräfte des ›Meisters‹ oder der ›Meisterin‹ wird dann vom ›Sektenführer‹ genutzt, Kontrolle über seine Schüler auszuüben; indem z.B. Ängste oder Schuldgefühle im Schüler erzeugt und später manipuliert werden. Der Schüler soll sich zudem durch den Glauben an das unumschränkte Wissen—»der Meister sieht alles«, »der Meister weiß alles«—klein fühlen.

Es kann auch vorkommen, dass ein ›Sektenführer‹ eigene sexuelle Bedürfnisse mit seinen Schülern—oder gar deren Kindern—ausleben möchte. Um dies zu erreichen wird dieser Wunsch gemäß des gelehrten Glaubenssystems spirituell verkleidet, d.h. man gibt der sexuellen Aktivität eine spirituelle ›höhere‹ Bedeutung. Von einem bekannten englischen buddhistischen Lehrer—Gründer einer weltweiten buddhistischen Organisation, der unbestritten viele Qualitäten besitzt—wird berichtet, dass seine Lehrdarlegungen so geschickt präsentiert waren, dass sie sexuellen Missbrauch begünstigten, zudem sei er sehr kontrollsüchtig gewesen. Eine Person, die missbraucht wurde und sich später umbrachte, berichtete einer führenden britischen Tageszeitung, dass der Lehrer, um sein Ziel zu erreichen, ihm sagte, dass er, der Schüler, um sich spirituell entwickeln zu können seine anti-homosexuellen Impulse überwinden müsse, ansonsten sei sein spiritueller Pfad blockiert. Der Meister werde ihm dabei helfen. Der missbrauchte Mann berichtet, dass er sich vor den Übergriffen fürchtete, aber beim Gedanken sie zurückzuweisen sich selbstsüchtig und erbärmlich fühlte. Zudem waren ja andere Übungen des Lehrers, wie die gelehrten Meditationen, wirklich sehr hilfreich …

Ist der oder die ›SektenführerIn‹ eine ordinierte Person hat er oder sie mit aller Wahrscheinlichkeit bei solchen Handlungen ein Parajika (Wurzelvergehen) begangen & ist de facto—wenn ein Parajika tatsächlich vorliegt—keine ordinierte Person mehr. Als Nicht-Ordinierter in der Robe einer ordinierten Person täuscht er den Orden und vertrauensvolle Laien. Dieser Betrug wird für ihn schwerwiegende karmische Konsequenzen haben. Nachlässig mit der eigenen Ethik, sich selbst ruinierend, verführt er oder sie dann auch noch die eigenen Schüler zum Bruch ihrer Ethik—immer mit der Begründung pseudo-höherer spiritueller Werte—und ruiniert ihren spirituellen Pfad, das Vertrauen der Laien und das Ansehen des Ordens.

Einige solcher missbräuchlichen Lehrer (oder ›Sektenführer‹) konnten in der Vergangenheit gestoppt werden, indem sie gesetzwidriger Handlungen überführt wurden und eine Gefängnisstrafe antreten mussten. Im Falle von Mönchen oder Nonnen muss—neben rechtsstaatlichen Mitteln—ein korrektes Vinaya-Verfahren eingeleitet werden. In schweren Fällen sollte eine externe Sangha, die eine Mehrheit an Mitgliedern hat und nicht durch Gelübdebrüche verunreinigt ist, hinzugezogen werden. Außerdem sind Vinaya-Spezialisten für die Durchführung eines korrekten Vinaya-Verfahrens hinzuzuziehen. Ja nach Ergebnis der Untersuchung wird die Person (oder die Personen) dann gemäß Vinaya aus dem Orden ausgeschlossen, erhält eine Probezeit oder andere Reinigungsrituale werden durchgeführt, um die Reinheit des Ordens wieder herzustellen.

Dort wo ein ›Sektenführer‹ nicht gestoppt wird, existiert die ›Sekte‹ meist bis ans Ende des Lebens des Führers fort und bricht danach früher oder später auseinander, es sei denn es findet sich z.B. ein charismatischer Schüler, der die Gruppe fortführen kann.

Getäuschte Anhänger eines missbräuchlichen Lehrers oder ›Sektenführers‹ verhalten sich unterschiedlich. Manche wollen die Taten des ›Meisters‹ öffentlich machen, finden aber kaum Gehör oder nicht die richtigen Worte, Beweise, Argumente und die nötige Eindringlichkeit, die für eine solche Kommunikation nötig sind. Andere scheinen in eine Art Stockholm-Syndrom zu fallen und nehmen den Täter, z.B. im Falle von sexuellem Missbrauch, in Schutz und wollen auf keinen Fall, dass ihm durch das was sie sagen oder tun geschadet wird. Wieder andere empfinden Scham und schweigen. Häufig durchschaut der ›Aussteiger‹ die ganze komplexe Struktur und das subtil-verdrehte Kommunikations- und Lehrgebilde der ›Sekte‹ auch gar nicht, ist von Zweifeln, Ängsten, einer unkontrollierten Flut von Gedanken und großer geistiger Unklarheit geplagt oder fürchtet, dass die eigene Motivation den ›Sektenführer‹ zu stoppen oder die Vorgänge öffentlich zu machen, von Rache getrieben sein könnten und möchte dieses um jeden Preis vermeiden. Ein erfolgreicher ›Sektenführer‹ hat ja bereits das Selbstvertrauen und die Unterscheidungsfähigkeit, ja die Handlungsfähigkeit seiner Anhänger über Jahre ausgehöhlt—eine gewisse Infantilisierung ist das Resultat—und Selbstzweifel, ›implantierte‹ Ängste und Schuldgefühle hemmen klare Gedanken, Entscheidungen und Handlungen. Es ist ein enormes emotionales Auf und Ab, das eine solche Person, die emotionalen, finanziellen, Macht-, körperlichen oder sexuellen Missbrauch erfahren musste, über Jahre noch plagen kann. Um dem Herr zu werden, verdrängen einige dann alles—so lange wie dies eben möglich ist.

Einer der sensiblen Punkte in einem missbräuchlichen System und dessen Aufdeckung ist die Kommunikation zwischen Betroffenen und der Institution in der der Missbrauch stattfand bzw. deren übergeordneten Organen—falls es diese gibt. Da der Missbrauchte sich in der schwächsten Position befindet und vor allem sensibles Zuhören und Geduld benötigt, liegt ein Großteil der Verantwortung zur Aufklärung bei übergeordneten Einrichtungen und engagierten Menschen, die Macht und Einfluss ausüben können.

Für Außenstehende ist eine Aufklärung eine große Herausforderung. Einerseits klingen die Vorwürfe ungeheuerlich. Der ›Sektenführer‹ hat sich in der Regel einen lokalen oder landesweiten—vielleicht sogar internationalen—Ruf erworben. Seine Aktivitäten werden im Allgemeinen als positiv betrachtet und dargestellt. Zudem muss man erwägen, dass es sich um falsche Anschuldigungen oder Verleumdungen handeln könnte. (All das gibt es ja auch!) Der ›Sektenführer‹ wird außerdem alles tun, eine erfolgreiche Aufklärung zu verhindern und zu bewährten Mitteln der Manipulation greifen, zu dem u.a. das Verleumden derer gehört, die gegen ihn sprechen. Da es beim ›Sektenführer‹ um ein Alles oder Nichts geht, wird er zu Hochform auflaufen, denn für ihn steht alles auf dem Spiel, was er über Jahre erarbeitet hat, was seine Identität ausmacht und was ihm wichtig ist. Verunsicherte ›Opfer‹ können mit seiner Fähigkeit andere zu überzeugen kaum mithalten. Häufig verstricken sie sich auch in Widersprüche, was sie unglaubwürdig erscheinen lässt.¹

Wie komplex und vielschichtig solche Mechanismen sind haben auch die Berichte in den Medien zu körperlichem, seelischem und sexuellen Missbrauch in Deutschland im Jahre 2010 gezeigt.

Destruktive Strukturen und nicht-destruktive Strukturen sind sehr schwer voneinander zu unterscheiden, sie sind sehr subtil. Es bedarf meist außerordentlicher Mühe und Sorgfalt hier zu einer Gewissheit zu kommen.

04. Juni 2010

Weiteres

¹ Das Lehrsystem des Anführers—welches häufig das Selbstvertrauen der Schüler aushöhlt und sie dazu bringt, sich immer zuerst selbst die Schuld zu geben—verbunden mit der destruktiven Struktur einer Sekte, in der meist bis zur Erschöpfung gearbeitet wird (was wiederum zu einem Verlust an Konzentration und mentaler Ausgeglichenheit führt), begünstigt das Auftreten solcher Widersprüche. Dieses Setting kombiniert mit der emotionalen Verwirrung eines ›Sektenaussteigers‹ befördert in hohem Maße die Unsicherheit und die Widersprüchlichkeit mit der Betroffene häufig nach außen erscheinen.

zurück