Fünf Merkmale nach John Welwood¹ - für kritische oder ungesunde Entwicklungen in einer Gruppe
1. Der Leiter / die Leiterin verfügt über eine totale Macht, das Selbstwertgefühl oder Selbstvertrauen einzelner Gruppenmitglieder zu stärken oder zu zerstören. Er bedient sich dieses Machtmittels ausgiebig, um sich die Mitglieder gefügig zu machen.
Merkmale eines solchen Gruppenleiters sind sein starkes - fast magnetisch wirkendes - Charisma, ein scheinbar unangreifbares Selbstvertrauen, eine tiefe Überzeugung und Sicherheit in Bezug auf seine Person und Tätigkeit - scheinbar über jeden Zweifel erhaben. Der Psychiater Erich Hoffer sagt: »Was zählt ist die arrogante Attitüde, die völlige Missachtung der Meinung anderer, die Haltung desjenigen, der allein auf sich gestellt der Welt zu trotzen wagt.«
John Welwood kommentiert: »Irgendetwas an dieser Unerschütterlichkeit scheint insbesondere Menschen zu gefallen, denen es an Selbstachtung mangelt. Die potentiellen Mitglieder solcher Kulte, scheinen hauptsächlich Menschen zu sein, die wenig Selbstvertrauen haben.«
Zu den ersten Methoden, Abhängigkeit zu erzeugen und Macht und Einfluss zu gewinnen, gehört, die Basis von Selbstvertrauen, Selbstrespekt und Selbstwert zuerst ins Wanken zu bringen und dann zu zerstören. Das bisherige Wertesystem wird in Frage gestellt: alles was du vorher getan hast war „weltlich“ oder „unheilig“ - wird also abqualifiziert. Das muss das neue Kultmitglied zuerst „schlucken“. Wenn das erreicht ist, wird das ideologische System des Kultführers, wie in einer Mutter-Baby Beziehung, wie „Muttermilch“ eingeflößt. Das neue Mitglied hat keinen erwachsenen, reifen Status, sondern ist in Bezug auf das System des Leiters/seiner Ideologie/Religion unwissend und wird bewusst unmündig dargestellt. Folgt das neue Mitglied dieser Methode bereitwillig und begibt sich auf solch eine naive Ebene, ist bereits die ungesunde, Abhängigkeit fördernde Beziehung hergestellt.
Später kann der/die LeiterIn dann diese Methode immer wieder einsetzen. Eine buddhistische Nonne formulierte dies so: „Zuerst macht sie dich nieder, bis du nichts mehr bist und dann baut sie dich wieder auf.“
Das kann wie folgt aussehen: alle Fehler des Gruppenmitglieds herauszuarbeiten, diese dann zu übertreiben, als katastrophal, schädlich usw. hinzustellen, bis sich das Mitglied ganz schlecht fühlt, erniedrigt, überzeugt von der eigenen „Unreinheit“ oder „Schlechtigkeit“; „schuldig“, hilflos, verzweifelt. Ist es am Punkt der totalen Verunsicherung angelangt, wird es wieder aufgebaut und zwar durch die „Güte“ des Leiters, der dieses arme verkümmerte Wesen ja in seiner allumfassenden Liebe annimmt und zu einem besseren Zustand führen wird, vorausgesetzt, das Mitglied hat genügend Vertrauen in ihn/sie …
Dies ist eine Methode, die ich selbst immer wieder beobachtete im Umgang einer Leiterin mit ihrer Assistentin:
Diese wurde nach Belieben für alle Fehler zurecht geschimpft, inklusive derer, die die Leiterin selbst zu verantworten hatte. Verbal wurde in einer unglaublichen Aggression auf sie eingedroschen, bis diese Nonne klitzeklein und „schuldig“ war. Später betonte die Leiterin dann ihre eigene „Güte“ so ein verrücktes und armseliges Wesen anzunehmen und wie glücklich sie, die Assistentin, sich doch schätzen kann, persönlicher „Diener“ von ihr, der großartigen Leiterin, zu sein.
Passiert dies auch in der Gegenwart anderer Gruppenmitglieder ist dies ein „Erniedrigungsritual“, wo der durch das Aufzählen seiner Verfehlungen und Mängel bloß gestellte, der Lächerlichkeit preisgegeben wird und für den Kultführer ist dies ein „Erhöhungsritual“, in dem er dann seine unglaubliche Güte, Liebe und Zuwendung zur Schau stellen kann, dieses armselige, unwürdige, „verschmutzte“ Wesen anzunehmen. Der Leiter hat jetzt quasi einen gottgleichen Status: er gewährt dem Gruppenmitglied wieder Boden unter den Füßen, nachdem er ihn vorher weggezogen hat.
Solche Mechanismen finden sich immer, wenn Kontrolle über Menschen erlangt werden soll: in der Armee, in Familien, der Politik, Diktaturen usw. Das Herausstellen von Fehlern und Erschüttern von Selbstvertrauen ist auch ein grundlegender Mechanismus des Mobbings, also am Arbeitsplatz.
Der Leiter/die Leiterin nutzt also unbewusst oder bewusst, das Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit seiner Anhänger aus, um Kontrolle über sie zu erlangen. Oder er erzeugt ein Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit, um dadurch Kontrolle zu erlangen, indem er/sie sich auf die Fehler des zu „Unterwerfenden“ einschießt.
Offensichtlich braucht der Leiter ihm Folgende und Bewunderer und die Folgenden jemanden, dem sie folgen und bewundern können. So halten sie sich gegenseitig und geben sich gegenseitig die Macht.
Ein Überlebender von Jonestown berichtete:
»Zuerst wirst du ein Niemand. Sie nehmen dich auseinander und zerstören alles, was du im Kopf hast und was dir wichtig ist, bis du völlig leer in der Birne bist. Dann musst du ihm für alles danken, was er gemacht hat - was immer es sein mag. Danach bist du völlig abhängig von ihm, weil du nichts anderes mehr hast. Alles was du hattest, ist böse. Er hat gesagt: ’Du hörst mir zu, und ich werde dir sagen, was gut ist.’, und die meisten Leute haben das wirklich geglaubt … Er gab allen ein Gefühl, als wären sie etwas Besonderes.«
Der Leiter arbeitet dabei bewusst oder unbewusst mit den Mitteln des Festhaltens, Zurückweisens und Ignorierens von Mitgliedern.
Ein Mitglied wird gebunden/festgehalten, in dem der Leiter durch das Aufbauen von Angstmechanismen verhindert, dass es gehen kann, der Weggang wird z.B. mit einem Verlust und spirituellen Absturz gleich gesetzt. Mitglieder können auch tatsächlich körperlich und örtlich festgehalten werden (Freiheitsberaubung).
Eingeschworenen Mitgliedern (inner circle), die ihm nicht mehr perfekt genug folgen oder Zweifel an seiner Autorität äußern, wird sein Missfallen durch Zurückweisen oder dauerhaftes ignorieren der Person ausgedrückt, dieser „Liebesentzug“ stärkt die Sehnsucht im Mitglied wieder ein „normgerechtes“ Verhalten zu entwickeln und sich wieder den Wünschen des Leiters/der Gruppe anzupassen.
Dies beschreibt ein Gruppenmitglied im Aufsatz von John Welwood¹ wie folgt:
»Wenn du die Erfahrung der Liebe [der charismatischen Führerpersönlichkeit] gemacht hast, und dann wird dir diese Liebe plötzlich vorenthalten, dann ist das so, als wärest du in Quarantäne, und in dir entsteht eine ungeheure starke Motivation, wieder in den Genuss jener Liebe zu kommen, ein ungeheures Verlangen, wieder mit jener Liebe in Kontakt zu kommen. Du tust das, weil du dich dann gut fühlst und weil es dir das Gefühl gibt, ein guter Mensch zu sein.«
- Der Gruppenleiter – selbst ein Opfer? - Anmerkung
- Die zentrale Person eines „Kults“ - Email eines Betroffenen (mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung)
- Gedanken zum Gruppenleiter einer ›Sekte‹, zu Aussteigern und Außenstehenden
„2. Die Gruppe wird durch Ergebenheit einer gemeinsamen Sache (einer Zielsetzung), einer Mission, einer Ideologie gegenüber zusammengehalten.
Kultgruppen wirken oft anziehend auf Menschen, weil sie an deren altruistischen Ideale appellieren, an ihr Bedürfnis Gutes zu tun, in der Welt von Wert zu sein oder die Welt gar zu retten.“
Damit das funktioniert ist es gut, wenn propagiert wird, man besitze hier die (alleinige) Wahrheit, den schnelleren und besseren Weg. Formulierungen, die die Begierde der Anhänger wecken. Im Gegenzug, die Verteufelung oder wenigstens das Infragestellen anderer Wege oder Gruppen und vor allem der Gesellschaft. Eine Sprache, die polarisiert wird eingesetzt, die Gut/Böse und schwarz/weiß Muster bedient, die Feindseligkeit und spirituelle Begierden weckt und das Ich-Denken puscht, im Sinne von: „Unsere Gruppe ist gut, die beste, andere sind nicht so gut oder ganz verkommen.“
Natürlich muss man das Besondere der eigenen Gruppe/Tradition anderen geben/zeigen und so können sich expansive Strukturen/Aktivitäten entwickeln. Die zahllosen Aktivitäten „zum Wohle der leidenden Wesen“ verhindern dann die selbstkritische Introspektion. Zahllose Aktivitäten, bis zur Erschöpfung verhindern ein Nachdenken, was man da eigentlich tut. Man entfremdet sich von sich selbst. Das wird dann als Fortschritt verbucht, bis man vielleicht genauso ver–rückt wie der Gruppenleiter ist.
In buddhistischen Gruppen mit solchen ent–rückten Strukturen kann man dann vor allem den tibetischen Buddhismus für solche Zwecke missbrauchen, auch wenn das nicht beabsichtigt ist. Prinzipiell lässt sich eben jede Religion, jede Sache missbrauchen. Um dies zu verhindern sind Selbstkritik, Selbstreflektion, Distanz zu zu vielen Aktivitäten, Introspektion und Austausch mit anderen Gruppen, Menschen, ja Offenheit und Weite geeignete und hoch wirksame Gegenmittel, aber genau diese werden durch die entstandenen Strukturen verhindert, so dass Selbstkorrekturen wegfallen, dann werden diese Muster geistig und in den Tätigkeiten der Gruppe verfestigt und führen zu einer unglaublichen Sog- und Wirkkraft, der man sich nur sehr schwer entziehen kann.
Ein Innehalten, kritische Reflektion ist durch diese dynamische Sogwirkung nicht mehr (oder nur sehr schwer) möglich.
In der Gruppe gibt es keinen intimen Räume, Informationen über die Mitglieder, ihr „Fehlverhalten“, ihre Ansichten und Äußerungen etc. werden an den Führer der Gruppe weiter getragen, der diese auswertet und nach Bedarf einsetzt. Zum Beispiel kann man diese Informationen gut nutzen, um die Beziehungen der Gruppenmitglieder zu kontrollieren. Ein Beispiel: dem Gruppenleiter wird zugetragen (oder persönlich anvertraut), dass eine Person homosexuell sein soll (oder es ist), das kann er dann gut bei einer ungewünschten, seine Autorität schwächenden Freundschaft innerhalb der Gruppe, an geeigneter Stelle ausspielen, um diese Personen zu trennen.
Zweifel an dem Führer, der Gruppe sind Häresie, da versteht man keinen Spaß. Der Zweifel stellt ja alles in Frage, die Arbeit, die Identifikation, die einzelnen Gruppenmitglieder, das Besondere der Gruppe. Er wirkt existenzbedrohlich für das Zusammenwirken der Gruppe, deshalb ist er per se negativ, kommt aus Verwirrung, ist nur „das Ego“ des Zweifelnden, kurz dämonischer Einfluss.
„Verrat“ an der Gruppe ist auch „Verrat“ an den altruistischen Idealen der Gruppe.
Kritik an der Gruppe, ist somit auch Kritik an ihren „altruistischen“ Idealen und kann deshalb nur Ego-Denken sein.
Fehlgeleiteter Altruismus, der eigentlich nur versteckter Narzissmus ist, ist offensichtlich schwerer zu erkennen, als reiner Egoismus. ’Für zu starken Egoismus hat die Gesellschaft Korrektive, nicht aber für fehlgeleiteten Altruismus.’
„3. Der Führer hält seine Gefolgschaft ‚auf Kurs‘ indem er Gefühle der Hoffnung und Angst manipuliert.“
Zuerst erhält man die Hoffnung, vom Leiden erlöst zu werden. Im Buddhismus ist das natürlich der Kern der Religionsanwendung. Allerdings erlangt man - gemäß Buddhas Lehre - die Erlösung nur durch das Ausüben der Drei höheren Schulungen und Sechs Vollkommenheiten, das sind im Kern die aufeinander aufbauenden und sich gegenseitig stützenden Übungen von Ethik, Sammlung und Weisheit. Die zahllosen Aktivitäten der Gruppe stehen diesen Übungen aber völlig im Wege. Es gibt keinen (oder nur sehr wenig) Raum für die Übungen der Sammlung und des Studiums, Nachdenkens und Meditation.
Es gibt dagegen (naive) Rechtfertigungssysteme, warum man trotzdem die Ethik übertreten darf, z.B. „zum Wohle anderer“ oder „der Zweck heiligt die Mittel“. So entstehen aber keine Zufriedenheit, innerer Frieden und Glück, im Gegenteil, das Leiden nimmt zu, Probleme nehmen zu. Wer zum Beispiel lügt, kann nicht erwarten, dass man ihm vertraut, wie sehr er das auch wünscht oder einfordert.
Lügt, betrügt und täuscht der Leiter und zieht in diesen Sumpf auch noch seine Anhänger, wird dieses unethische Verhalten das Vertrauen der Anhängerschaft untergraben und Chaos, Misstrauen und Disharmonie gewinnen die Oberhand, von anderen Schwierigkeiten, die zu Tage treten, ganz zu schweigen oder die fatalen Auswirkungen, wenn der Missbrauch sexuell orientiert ist.
Nun, weil die Gruppe ja so toll ist und man sich gegenseitig beweisen (vormachen) muss, dass man auch ganz toll und fortgeschritten ist, bedarf es „Methoden“, die die nicht mehr leugbaren Probleme, gehäuft auftretenden Schwierigkeiten und Spannungen in der Gruppe oder die die „Angriffe von außen“ (durch Kritiker der Gruppe) als Fortschritt verbuchen lassen und nicht als Fehler im eigenen (unethischen) Verhalten.
Solche Methoden aktiven Leugnens können sein: absolutes Verdrängen, Tabuisierung, Schönreden, Kritik als aus sich heraus negativ sehen. Oder indem man den „Feinden“ die Schuld gibt, die auf den Erfolg der Gruppe/des Leiters „eifersüchtig“ sind oder Schwarzmagie betreiben, von Dämonen besetzt sind usw.
Bedient man sich (missbräuchlich!) am buddhistischen Gedankengut ist die Palette schier unerschöpflich:
- die Fehler die du siehst sind nur dein eigener Geist, deine eigene Projektion
- die Fehler die du fälschlich wahrnimmst, sind Ausdruck deines negativen Geistes
- ein reiner Geist sieht alles als rein (was die Bedeutung von „rein“ im buddh. Sinne ist, ist dabei völlig unklar)
- ein unreiner Geist sieht alles als unrein
- du zerstörst deine ganzen Verdienste, wenn du so denkst
- oh, pass auf du sammelst ganz viel negatives Karma an, wenn du so etwas sagst oder denkst (das sage ich nur zu deinem Schutz, deinem Wohl)
- Vorsicht! Du brichst mit deinem Guru!
(Dies ist nur ein kleiner Auszug von Möglichkeiten.)
„Hilfreich“ ist zudem Kritiker als weltlich, negativ, verblendet, getäuscht, eifersüchtig, verliebt, geisteskrank oder als Guru- und Gelübdebrecher darzustellen.
Den Mangel an innerer Einkehr und das Folgen der unzähligen, erschöpfenden Aktivitäten kann man dann als „Verdienstansammlung“ preisen und kann dies untermauern: hast du erst einmal genug davon, dann geht’s auch mit der Meditation einfacher. Also kurz: eigentlich wird der ganze Schatz der Lehren verbogen und missbraucht dass die Balken krachen. Der Leiter ist Meister des Uminterpretierens geworden, oder kurz: Meister der Selbsttäuschung und damit Meister der Täuschung anderer.
Nimmt das Leiden zu, wird dies dann einfach als Fortschritt verbucht, als „Reinigung“. Gibt es Schwierigkeiten, Probleme oder Angriffe von außen, wird dies als Zeichen des „Fortschritts auf dem Pfad“ interpretiert. Es gibt keinen Grund, die eigenen Handlungen selbstkritisch zu reflektieren, sich infrage zu stellen, wenn man nur weiter dem Führer folgt, wird alles gut. Dieses Glaubenssystem, dass alles gut wird, das immer neue kreieren neuer Vorstellungen, neuer Aufgaben, neuer Beweise, wie richtig alles ist, funktioniert als Hoffnungssystem, die Tagesmeinungen und Sichtweisen sind wie Surfbretter auf dem tiefen Meer, man ist froh etwas unter den Füßen zu haben, um nur ja nicht unterzugehen.
»Die Währung im Reich des Kultführers ist das Versprechen.« Der Leiter ist ein Meister des Versprechens und „des Hoffnung machens“ geworden, um die Leute bei der Stange zu halten. Das Versprechen tröstet, hält die Hoffnung aufrecht, unterwandert kritische Einstellungen, fordert letztlich einen Glauben an die Sache und den Führer, der der genaueren kritischen Prüfung gar nicht mehr stand hält - und für die sowieso keine Zeit da ist.
Das gemeinsame Ziel hat Vorrang vor der individuellen Not, den individuellen Erfahrungen, den individuellen Wünschen, dem individuellen Glück oder Zweifeln. Der Jünger ordnet sich der Gruppe unter für das höhere Ziel der Gruppe, gibt seine Wünsche, temporäre und längerfristige, seine Meinungen, Ansichten auf und unterwirft sich der Gruppe, dem Führer. Kleidung, Sprache, Denken und Verhalten werden einheitlich, uniform. Dies wird dann als Erfolg gewertet, als Egolosigkeit, als Vertrauen und Hingabe mit der Option, dass das später (mit Erlösung vom Leid) belohnt wird.
Bei den Gruppen, die ich kennen lernen durfte, ist das sehr subtil und es gibt inhaltliche Missverständnisse über Begriffe wie „Hingabe“, „ Vertrauen“, „selbstlos“, Leerheit (Shunyata), „Wurzel-Guru“, Entsagung, Altruismus, reine Sicht, Bruch der Guru-Hingabe und Sanghaspaltung, die dem Missbrauch Tür und Tor öffnen. Diese Missverständnisse kann man aber nicht im Raum der Gruppe klären, dort ist das Motto: alles wird gut, wenn du bei uns bleibst.
Im Gegenzug wo Belohnung ist, muss natürlich auch Bestrafung sein, wenn man die Gefolgschaft verweigert, die Gruppe verlässt oder gar den Führer der Gruppe. Das kann man mit Versen aus dem tibetischen Buddhismus perfekt untermauern: Schwierigkeiten noch in diesem Leben, Höllengeburten in den folgenden und keine Lehrer mehr in eventuellen späteren menschlichen Geburten, wenn man die Gruppe/den Lehrer verlässt.
Leider werden diese Darlegungen einseitig und undifferenziert dogmatisch ausgelegt und bewusst oder unbewusst als Methode missbraucht, Schüler an sich zu binden. Es wird durch welche Darstellungen auch immer, gedroht: wer die Gruppe verlässt, wird Schaden erfahren, nur in der Gruppe ist das Heil zu finden.
Dass es falsche Lehrer gibt und dass es Lehrer gibt, zu denen man auf Distanz gehen muss, weil sie die Schüler auf falsche Pfade führen und wie man das tut, ja wie man überhaupt Scharlatane entlarvt, ist kein Thema.
Im Aufsatz von John Welwood heißt es: »So absurd diese Ängste erscheinen mögen, müssen wir doch daran denken, dass Kultmitglieder ihre Autonomie und ihre kritische Denkfähigkeit bereits um der Anerkennung und des Zugehörigkeitsgefühls willen aufgegeben haben. Dadurch liefern sie sich der Kontrolle des Führers aus, der Macht über die Anhänger ausübt, indem er starke Emotionen in ihnen aktiviert und diese dann seinen Interessen entsprechend kanalisiert. Hoffer schreibt hierzu: Die Selbstentfremdung, welche eine Vorbedingung sowohl für Formbarkeit als auch für die Konversion ist, findet fast immer in einer stark emotionalisierten Atmosphäre statt … Sobald die innere Harmonie eines Menschen gestört ist, hungert der Betreffende danach, sich mit allem zu verbinden, was in seine Reichweite kommt. Er vermag nicht ausgeglichen und in sich selbst ruhend abseits zu stehen, sondern muss sich stets mit ganzem Herzen auf die eine oder andere Seite schlagen.«
Anmerken möchte ich, dass das typische Methoden für das Unterwerfen von Menschen sind, wie sie auch im Krieg, der Armee und Folter angewandt werden. Es sind dieselben zugrunde liegenden Mechanismen, nur das Kleid ist verschieden, das sie tragen.
„4. ‚Gruppendenken‘ dient dazu die Anhänger zusammenzuschweißen.
Übereinstimmung mit den Ansichten der Gruppenmitglieder ist wichtiger als gesunder Menschenverstand und unabhängiges Urteil. Mitgliedern der Gruppe wird häufig abgeraten, viel Zeit allein oder mit ihren Familien zu verbringen … Je nachhaltiger das Selbstvertrauen zerstört wird, umso mehr muss sich der Anhänger an anderen orientieren. Er richtet sich nach dem inneren Bild des idealen Gruppenmitglieds, das er aufgebaut hat …“ so übernimmt er Verhalten, Ansichten, Gedanken und Feindbilder des Führers oder seines Führungszirkels oder imitiert diese.
Feindbilder, das heißt Menschen die die Gruppe (scheinbar) angreifen, ihr schaden, oder ihr überlegen sind oder die in irgendeiner Weise nicht mit ihren Sichtweisen harmonieren, schweißen die Gruppe zusammen. Dies wird durch die aufgebaute Isolation außerdem genährt, da man die Feindbilder beliebig aufblähen kann, es gibt ja keine Korrektiven und Dialoge bzw. klärende und offene Gespräche.
„5. Kultführer sind oft selbsternannte Propheten, die weder selbst bei großen Meistern studiert noch irgendeine langwierige spirituelle Schulung durchgemacht haben.“
Die großen religiösen Traditionen haben Übermittlungslinien, die eigentlich eine ordentliche Weitergabe der religiösen Inhalte und nicht-missbräuchliche Verwendung sicherstellen. Dazu gehören viele und umfassende Aspekte der geistigen Ausbildung und des geistigen Trainings.
Es gibt Kultführer, die keine solche Ausbildung erhalten haben oder eine solche vortäuschen, wo bei näherer Prüfung Ungereimtheiten in der Biografie und der Ausbildung auftreten oder die mit großem Geschick den tatsächlichen Umfang ihrer Ausbildung verschleiern oder aufbauschen.
Es gibt Lehrer, die angeblich als Dharma-Erben eingesetzt wurden und denen dies nur persönlich ins Ohr geflüstert wurde (ohne Zeugen). Dann gibt es gut ausgebildete Lehrer, in deren Entwicklung sich ein Riss entwickelt hat, die inneren Täuschungen und eigenen inneren (negativen) Kräften - oder auch äußeren - erlegen sind. Diese geben wiederum naiven Schülern Lehraufträge, damit ihre Organisation wächst und sich über die ganze Welt verbreitet.
Dann gibt es Lehrer, die aus Mangel an Gewissen, Fähigkeit, Wissen oder Eigeninteresse von anderen ernannt oder als „Tulku“ anerkannt werden, aber keiner sind oder die sich selbst so titulieren oder diesen oder andere Titel mit dem nötigen Geld kauften.
Da gute, mittlere und schlechte Lehrer bzw. geistige Führer nun einmal ein Aspekt dieser Welt sind, liegt es am Schüler hier mit höchster Sorgfalt heranzugehen; kritisch und offen und vor allem zutiefst ehrlich zu sein und den Mut zu haben, wenn man sich getäuscht hat, wenn man auf Blender oder Scharlatane hereinfiel, die nötigen Konsequenzen zu ziehen und sich von solchen falschen Gurus zu lösen, statt sich das Glück dieses und zukünftiger Leben kaputt machen zu lassen und durch weiteres Mittragen solcher Gruppen zum Leiden, der Verführung und Selbsttäuschung anderer beizutragen.
Trost und Hoffnung
Man könnte ja wirklich denken wie dumm und naiv muss jemand sein, der in so etwas reinrutscht, der sich so an der Nase herumführen lässt. Oder der Betroffene schämt sich und schweigt, weil er auf soviel Dummheit hereinfiel und das alles auch noch in seiner Naivität und Täuschung mitgemacht hat.
Als Trost sei gesagt, vor kurzem noch fielen in Deutschland (und einigen Teilen der Welt) Helmut Kohl, hochrangige Manager, Reporter, Politiker, Gouverneure auf den jugendlichen Elan, das Geschäftsgebaren, die Persönlichkeit und Visionen des Jungunternehmers Lars Windhorst herein. Und vor 70 Jahren fast das gesamte Volk der „Dichter und Denker“ auf den Oberdiktator Adolf Hitler.
Offensichtlich ist da ein Mechanismus in uns, der uns anfällig macht.
Berechtigte Hoffnung kommt meines Erachtens, wenn man diesen in sich versteht, erkennt und versucht zu überwinden und nicht wenn man selbstherrlich denkt: das kann mir nicht passieren oder das Problem schlicht unter den Teppich kehrt.
Arbeitet man an diesen Punkten, können Gruppen und ihre Mitglieder auch wieder „entsekten“. Denn der Weg zur Sekte, die „Versektung“, war auch ein Prozess und ging nicht quasi magisch über Nacht.
Von daher sind solche Entwicklungen ein guter und heilsamer Spiegel auf dem eigenen Weg.
Ein Weg zu lernen.